„Durch Tod des Angeklagten erledigt“

■ Fast fünf Jahrzehnte lang ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen der Steglitzer Morde gegen die teilweise bekannten Täter, doch zu einer Anklage oder einem Urteil kam es nie

3 P (K) Js 130/60 lautet das Geschäftszeichen auf dem Deckel von ein paar Akten, die 1994 im Archiv des Generalstaatsanwaltes I bei dem Landgericht Berlin nach einigem Suchen wiederaufgetaucht sind. Die Akten enthalten Blätter, zum Teil stark vergilbt, an den Rändern zerfleddert, die Hinterlassenschaft eines Ermittlungsverfahrens, das 1945 begann und mit einigen Unterbrechungen bis in das Jahr 1991 geführt wurde.

Erste nachvollziehbare Ermittlungshandlung ist die „Einnahme des richterlichen Augenscheins an Ort und Stelle, Hof der Markus- Schule, Berlin-Steglitz, Karl-Stieler-Straße“ durch das Amtsgericht Steglitz. Gegenwärtig sind der Amtsgerichtsdirektor, eine Protokollführerin und „Oberstaatsanwalt Hilde Benjamin, Frau“. Es handelt sich um dieselbe Hilde Benjamin, die später als Justizministerin der DDR Rechtsgeschichte gemacht hat.

Die „Einnahme des richterlichen Augenscheins“ gilt fünf ausgegrabenen Leichen auf dem Hof der Schule. Drei Tage später findet ein weiterer Ortstermin statt, an dem auch sowjetische Offiziere sowie Vertreter der Kriminalpolizei teilnehmen. Es werden weitere Grabstellen geöffnet und Leichen von Menschen festgestellt, die „illegal ermordert“ (so heißt es im Protokoll) wurden.

In der Folgezeit werden kriminalpolizeiliche Ermittlungen geführt. Zahlreiche Zeugen werden gehört, bis in den Dezember des Jahres 1946. Dann bricht die Dokumentation plötzlich ab. Blatt 30 enthält einen „Vermerk“ der ermittelnden Kriminalpolizi, der zum Ergebnis kommt, eine „Täterschaft“ sei nicht feststellbar. Allerdings bezieht sich der „Vermerk“ lediglich auf einen der getöteten Menschen. Im übrigen geht die Notiz davon aus, „daß sich die Täter, worunter sich auch der T. befindet, nicht in Berlin oder Umgebund aufhalten.“ Zumindest gegen eine Person besteht also Tatverdacht, und es hätte aller Anlaß bestanden, nach ihr zu forschen. Es geschieht jedoch nichts.

Eine Verfügung der Staatsanwaltschaft, etwa die Einstellung des Verfahrens oder die Veranlassung weiterer Ermittlungen, ist nicht feststellbar. Das Verfahren scheint – warum auch immer – außer Kontrolle geraten. Das folgende Blatt 31 trägt bereits das Datum des 11. März 1955. Es kann lediglich vermutet werden, daß die Entwicklung in der Stadt und das Schicksal der Ermittlungsführerin Benjamin das Interesse vom Verfahren abgelenkt haben. Inzwischen ist die Stadt geteilt. Der „Kalte Krieg“ ist über sie hinweggegangen und hat ihr Gesicht geprägt. Der Versuch der „Entnazifizierung“ ist gescheitert und abgewürgt.

In einem Vermerk vom 9. Oktober 1958 ist die Rede von einer „Wiederaufnahme“ des (gar nicht eingestellten) Verfahrens. Diesmal ergaben die Ermittlungen drei Tatverdächtige, zwei Angehörige der Kreisleitung III der NSDAP, Fritz T. und Hans R., sowie den damaligen Leiter der Kreisleitung III, Wilhelm Sch.

Fritz T., ein Mann, der als fanatischer Nazi beschrieben wird, genannt „der Schlächter“, „der Henker“, der „Einarmige“, denn ein Arm ist durch eine Kriegsverletzung beschädigt, er trägt immer einen Lederhandschuh, ist nicht auffindbar.

Schon in den 1946 abgebrochenen Ermittlungen war er – ebenso wie R. – als möglicher Täter festgestellt worden.

Hans R. wird festgenommen und in Untersuchungshaft nach Moabit gebracht. Er bestreitet die Vorwürfe. Ein Belastungszeuge schwankt. Fast einen Monat nach der Festnahme wird der Haftbefehl wieder aufgehoben. Das Verfahren gegen ihn wird mangels Beweisen eingestellt.

Von dem ehemaligen Leiter der Kreisleitung, Wilhelm Sch., ist inzwischen bekanntgeworden, daß er für tot erklärt wurde. Bekannt ist auch der (vermutliche) Aufenthaltsort des „Einarmigen“, Fritz T. Nur: Der befindet sich in der DDR. Gegen ihn ergeht am 5. August 1959 Haftbefehl wegen des Verdachtes des Mordes. Doch der zuständige Oberstaatsanwalt handelt nicht, weil möglicherweise „die Justizbehörden der Sowjetzone einem solchen Ersuchen nicht stattgeben und von sich aus ein Verfahren wegen Mordes einleiten würden. In diesem Falle wäre nicht ohne weiteres die Gewähr dafür gegeben, daß gegen den Beschuldigten ein rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechendes Strafverfahren durchgeführt werden würde. Es erscheint zwar im Hinblick auf die Schwere der Straftaten des Beschuldigten unbillig, daß er aus diesen Gründen nicht seiner gerechten Betrafung zugeführt werden kann. Die Vorschriften des Freiheitsschutzgesetzes dürften diesen Bedenken jedoch entgegenstehen.“

Die Kriminalpolizei beauftragt einen Mitarbeiter des Ostbüros der SPD mit der Überprüfung der Anschrift des T. Es wird erwogen, ihm nahezulegen, sich den Westberliner Ermittlungsbehörden freiwillig zu stellen, auch dies über einen Mittelsmann des Ostbüros. Doch dann schlägt der Justizsenator am 1. Februar 1960 vor, „daß der Beschuldigte in einem Brief mit neutralem Umschlag, handgeschriebener Adresse und privatem Absender zu einer verantwortlichen Vernehmung geladen wird. In der Aufforderung werden die ihm vorgeworfenen strafbaren Handlungen in unverfänglicher Weise zu umschreiben sein“.

Der Beschuldigte soll aufgefordert werden, sich bei den Ermittlungsbehörden einzufinden, „wo der gegen ihn bestehende Verdacht geprüft werden solle“. Sollte er nicht erscheinen, wird angeregt, ein „Zulieferungsersuchen“ an die Behörden der „SBZ“ zu richten „und im Falle der Ablehnung die Mitwirkung an einem dort eingeleiteten Verfahren von dem Verzicht auf die Vollstreckung einer etwa verhängten Todesstrafe abhängig zu machen.“

Der Vorschlag trifft bei der Staatsanwaltschaft nicht auf Gegenliebe. Man fürchtet dort, der Brief könne abgefangen werden und „zu unerfreulichen Angriffen gegen die Justizverwaltung in Westberlin führen“.

Zur Befürchtung, der Beschuldigte könne in der „SBZ“ zum Tode verurteilt werden, gesellt sich nun diejenige, er könne zum Opfer eines „politischen Schauprozesss mit im voraus feststehenden Ergebnis gegen einen Beschuldigten“ werden, „dessen Schuld nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht leicht nachzuweisen sein wird“.

Statt dessen wird die gerichtliche Voruntersuchung geführt gegen T. Das heißt: Alle Zeugen werden nochmals gehört, diesmal durch den Untersuchungsrichter. Am 17. März 1962 wird die Voruntersuchung eröffnet, am 18. Dezember 1962 wird sie geschlossen. Das Verfahren wird durch das Landgericht Berlin am 29. Januar 1963 vorläufig eingestellt. Die Staatsanwaltschaft hält es für zweifelhaft, ob gegen T. hinreichender Tatverdacht besteht, der die Erhebung der Anklage rechtfertigen würde. Ein Antrag an die Behörden der „SBZ“, ihn „zuzuliefern“, wird daher nicht als gerechtfertigt angesehen.

Es erfolgt lediglich eine „Ausschreibung zur Festnahme“ des T., veranlaßt im August 1970. So dümpelt das Verfahren mit immer neuer Fristverlängerung dieser Ausschreibung vor sich hin bis Ende der achtziger Jahre.

Im Dezember 1987 wird in der DDR die Todesstrafe abgeschafft. Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht meint nun, einer Abgabe des Verfahrens an den Generalstaatsanwalt der DDR stünde nichts mehr entgegen. Der Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht teilt die Auffassung. Auch mit einem „politischen Schauprozeß“ sei „heute nicht mehr zu rechnen“. Der Senator für Justiz wendet sich jedoch zunächst, im Juni 1988, an den Bundesjustizminister, da er ein bundeseinheitliches Vorgehen in Fällen von NS-Kriegsverbrechen wünscht. Die Reaktion – nach Umfrage in den übrigen Bundesländern – ist positiv: Es soll abgegeben werden. Inzwischen schreiben wir den September 1988.

Zu der Zeit ist allerdings der „einzige Belastungszeuge mit konkreter Zuordnung einer Tat zu dem Beschuldigten T.“ verstorben, ebenso ein weiterer Zeuge. Die Beweisdecke erscheint daher so dünn, daß der Dezernent bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht eine Verfahrensabgabe nicht mehr für sinnvoll hält. Das Verfahren wird beseitegelegt. Im Juli 89 richtet die Staatsanwaltschaft an das Landgericht den Antrag, das Verfahren wiederaufzunehmen, um es endgültig einzustellen.

Zwischenzeitlich ereignet sich die „Wende“. Es erscheint möglich, T. nun endlich einmal zu vernehmen. Es wird nach ihm gesucht. Am 14. November 1990 erreicht das Landeskriminalamt Berlin ein Telex, in dem es unter anderem heißt: „durch vpka neuruppin wird mit fs nr. 66 vom 13. 11. 1990 folgendes ermittlungsergebnis mitgeteilt: o.g. ist am 21. 3. 1975 verstorben ...“

Das Verfahren hat sich damit, wie es in der Verfügung des bearbeitenden Oberstaatsanwaltes vom 21. Januar 1991 heißt, „durch den Tod des Angeschuldigten erledigt“. Stefan König