Land der Strahlenexperten und Meßstationen

Am 26. April jährt sich die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl zum neunten Mal. Da inzwischen klar ist, daß die radioaktive Belastung durch die ganze Ukraine „wandert“, wächst auch die Bewegung „Rettung vor Tschernobyl“  ■ Von Barbara Kerneck

Heute, neun Jahre danach, weiß die ganze Welt, daß die Reaktor- Katastrophe von Tschernobyl leise, aber unerbittlich immer weitere Kreise zieht. Nur ein Beispiel: Während in den Vor-Tschernobyl- Jahren im Jahresdurchschnitt 5.000 von 100.000 Kindern im Lande an Schilddrüsenkrebs erkrankten, waren es 1993 bereits 36.000 Kinder, bei denen vor allem radioaktives Jod 131 diese Krankheit auslöste. Die Zahl der Stoffwechselkrankheiten bei Erwachsenen ist nach der Katastrophe um das Zehn- bis Fünfzehnfache gestiegen. Mit dem Grundwasser, das sich an den Rändern der Tschernobyler Endlagerstätten sammelt, wandern Radionukleide durch das ganze Land. Noch immer neigen Regierung und ein Teil der Bevölkerung dazu, die Spätfolgen zu verharmlosen. Inzwischen breitet sich immerhin eine Ahnung von der wahren Gefahr aus. Das Gegenteil des durch Unwissenheit geförderten Leichtsinns bezeichnet man in der Ukraine inzwischen als „Radiophobie“, eine Art Strahlen- Verfolgungswahn.

Auch die ukrainische Regierung muß heute der Erkenntnis Rechnung tragen, daß die Strahlung „wandert“. Es wurde ein Gesetz verabschiedet, demzufolge alle BewohnerInnen neu kontaminierter Gebiete im Prinzip von dort ausgesiedelt werden und die gleichen Rechte genießen sollen, wie die Bevölkerung der ursprünglichen Katastrophenzone. Wenigstens theoretisch bedeutet das: Bevorzugung bei Arbeitsvermittlung und Wohnungszuweisung, dazu bescheidene Kompensationszahlungen. Zu den Vorkämpfern dieses Programms gehört die Organisation „Rettung vor Tschernobyl“, sie war ihrerseits von Anfang an Teil der Bewegung „Grüne Welt“. Diese Dachorganisation der ukrainischen Grünen fordert die Stillegung aller Atomkraftwerke des Landes.

„Bis 1989 wurden überhaupt nur drei Dörfer aus der Tschernobyl-Umgebung evakuiert, etwa 5.000 Menschen also“, erzählt der Atomphysiker Michail Magall, Leiter des Strahlungsmessungsdienstes von „Rettung vor Tschernobyl“. „Gleichzeitig war unsere erste Expertise fertig, die dies sofort für dreizehn oder vierzehn Dörfer forderte. Bis heute wechselten etwa 20.000 Menschen aufgrund des von uns befürworteten Gesetzes ihren Wohnort.“

In den vergangenen Jahren hat sich „Rettung vor Tschernobyl“ von einem Physiker-Klub zu einer breiten Bürgerbewegung entwickelt. Rund 150 Mitglieder zählt die Initiative heute, und es werden, so Magall, immer mehr. Keimzelle der Organisation war das „Institut für Kernforschung der Akademie der Wissenschaften der Ukraine“. Dessen Mitarbeitern und ihrem Chef Jewgeni Wladimirowitsch Korbezki platzte 1989 der Kragen, als sie von den zahlreichen menschlichen und tierischen Mißgeburten erfuhren, die im wenige Kilometer von Tschernobyl entfernten Bezirk Naroditschi zur Welt kamen. „Nun waren wir uns sicher, daß die Medien nur noch logen, und deshalb beschlossen wir, eine unabhängige Expertise über die Situation in den noch besiedelten Dörfern um Tschernobyl anzustellen“, berichtet Magall.

Wo ein Meßwert von 40 Curie überschritten wird, fordert die Organisation: „Nichts wie weg von hier!“ Als „Zonen der freiwilligen Aussiedlung“, werden diejenigen Gebiete bezeichnet, in denen der Strahlungspegel zwischen 15 und 40 Curie liegt. Hierzu zählt zum Beispiel das im Südwesten der Ukraine liegende Iwano-Frankowsk. Wer von hier weg will, wird vom Staat unterstützt.

Die Wachsamkeit der BürgerInnen versucht „Rettung vor Tschernobyl“ mit seinem jüngsten Projekt am Leben zu halten, dem „Gesellschaftlichen Antistrahlungsprogramm der Ukraine“. Dazu gehören fünf Bereiche: ein strahlungsökologisches Bildungsprogramm für die Bevölkerung, der von Magall geleitete Strahlungsmessungsdienst, ein Frühwarndienst – vor allem in jenen Bezirken, die bisher noch als strahlungsfrei gelten –, ein unabhängiges Informationsbüro und ein unabhängiges Laboratorium.

„Als wir 1989 anfingen, war ein Geigerzähler für einfache Leute ein unerreichbarer Traum“, erinnert sich der Physiker: „Jetzt haben die ersten Absolventen unseres Bildungsprogramms ihrerseits schon 57 Kontrollpunkte im Land eröffnet. Mit Hilfe ausländischer Stiftungen konnten wir die erforderliche Meßausrüstung im Wert von 800 Dollar pro Station kaufen. Diese Geräte sollen bei uns nicht bloß messen, sondern ständig weiterlehren. Deshalb haben wir alle Stationen unter Schuldächern errichtet, damit die Menschen bei uns von klein auf eine gewisse Vorstellung davon gewinnen, was das eigentlich ist: „Strahlung“.

Magall zufolge sind junge Familien mit Kindern heute über jede Gelegenheit froh, die gefährlichen Territorien zu verlassen. Den Gegenpol bilden die ganz Alten, die nach jedem Versuch, ihre Heimat zu verlassen, immer wieder an ihren ehemaligen Wohnort zurückkehren. „Kann ich ihnen etwa einen Vorwurf machen?“ fragt der selbst eher junge Experte: „Auch ich bin schließlich in Kiew geblieben, als dort die Strahlung 1989 besonders hoch war.“ Außerdem erschwert die wirtschaftliche Lage des Landes natürlich die Umsiedlung.“ Magall: Als Atomphysiker verdiene ich zur Zeit umgerechnet 12 Dollar im Monat und soll davon mit Frau und zwei Kindern leben. Wo sonst gibt es das noch in der Welt: Wissenschaftler, die im Sommer in ihren Heimatdörfern Heu machen, um mit ihren Familien den Winter zu überleben?“

Wenn ein US-Dollar im September noch 45.000 ukrainische Karbowanzy wert war, so kann man heute bereits rund 150.000 dafür bekommen. Auch deshalb legt die Bewegung das Schwergewicht der Arbeit immer mehr auf die Schaffung kleiner, dezentraler und daher realtiv preiswerter Stationen. So entwickelt sich die Ukraine zu einem Land, das zumindest in einem Bereich von keinem anderen übertroffen wird: in der Zahl seiner „Strahlenexperten“.