„Tschernobyl fängt doch jetzt erst richtig an“

■ Der Regisseur Georgi Schklarewski dreht seit 1988 Dokumentarfilme über die Folgen des Reaktorunfalls / Alles begann mit einem Film über einen Armeegeneral

Georgi Jakowlewitsch Schklarewski befindet sich mal wieder in Bewegung. Mit der unverzichtbaren Baskenmütze auf dem Kopf, im dunklen Pelerinenmantel eines Talmudschülers, kommt er auf mich zugeschossen. „Vorwärts und nach oben!“ ruft der Dokumentarfilmer und deutet damit nicht sein Lebensprogramm an, sondern den Weg zum Vorführraum im Kiewer „Haus des Kinos“. In 57 Lebensjahren hat sich Schklarewski nicht nur einen aufrechten, sondern auch einen leichten Gang und eine leichte Hand bewahrt. Ihr verdankt er zahlreiche Festspielpreise, seit er sich vor neun Jahren auf das Thema Tschernobyl stürzte. Für den Film „Das Mikrophon“ erhielt er 1989 den Oberhausener „FIPRESSI“, 1990 den Hauptpreis des Freiburger Festivals.

„Im Jahre 1988 durfte man bei uns ja über all das noch nicht offen reden. Damals erhielt ich den Auftrag zu einem Film, über einen bereits in den achtziger Jahren verstorbenen General, der im Komitee für Staatssicherheit war. Und unter dem Deckmantel der Aufnahmen zu diesem Projekt habe ich, sozusagen ganz nebenbei, meinen ersten Tschernobyl-Film gedreht.“

Eine der ersten Außenaufnahmen machte das Team in Kiew, nicht weit vom Zentralstadion, wo gerade die erste große Kundgebung über die Folgen der Katastrophe abgehalten wurde. Schklarewski: „Dabei schaltete ein Funktionär einem der Redner das Mikrophon aus, damit die Leute die Wahrheit nicht zu hören bekamen. Die Menge begann zu skandieren: „Mikrophon, Mikrophon!!“ An diesem Tag erfüllte sich für uns der Traum jedes Dokumentarfilmers, daß wir uns nämlich ganz zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort befanden. Und weil wir schon so einen guten Anfang hatten, mußten wir natürlich zu dem Thema weiterdrehen.“ Der Titel in seiner ukrainischen Schreibweise „Mikro-fon hat einen doppelten Sinn, einmal bezeichnet er wirklich das „Mikrophon“, das Instrument der Glasnost. Zum anderen aber den „Mikro-Fond“, die Strahlung in einem kleinen Umweltbereich“.

Bisher größter Erfolg Schklarewskis war der Film „Noch leben wir“. Er beschäftigt sich unter anderem mit den sogenannten „Liquidatoren“, jenen jungen Männern, die 1986 während ihres Wehrdienstes als lebendiges Löschmaterial unter den brennenden Reaktor getrieben wurden. Daß Schklarewski über Jahr und Tag dieselben Schauplätze und Menschen aufnahm, ermöglicht ihm jetzt so manchen kühnen Kameraschwenk über die Zeit hinweg.

Die ganzen Jahre über hat Schklarewskis Team für das ukrainische Wochenschau- und Dokumentarfilmstudio gedreht. 1994 erhielt es erstmals einen Auftrag des ukrainischen „Ministeriums für den Schutz des Volkes vor den Konsequenzen des Tschernobyl- Unfalls“. Es entstand der Film „Unsere Alarm-Zone“. Auf eigene Kosten produzierte das Aufnahmeteam dazu noch ein Vorfilmchen. Es heißt „Tschernobyl- Souvenirs“ und dokumentiert die allerabsurdesten Vorgänge um die „Zone“. Da hat sich zum Beispiel ein blühender Wissenschaftstourismus entwickelt. Auf der Leinwand ist ein zimmergroßes Schaltpult des AKWs zu sehen, von dem Experten aus aller Welt im Lauf der Jahre ganz nebenbei alle Knöpfchen und Hebelchen abmontiert haben. Da gibt es Luftaufnahmen, riesige Parkplätze voller Autos, und dann die Nahaufnahmen: kein Fahrzeug dort, das nicht bis auf den letzten Scheibenwischer und das letzte Rad total ausgeschlachtet wäre.

Bevor er auf die Folgen der Reaktorkatastrophe stieß, hatte Georgi Jakowlewitsch schon Dutzende von Dokumentarfilmen gedreht, über Gott und die Welt: „Ja, ja, auch einen über Lenin — und ich brauche mich seiner nicht zu schämen.“

Gern würde der vor Humor sprühende Schklarewski mal wieder einen Film über „etwas richtig Lustiges“ machen. Das zehnjährige Jubiläum der Reaktorkatastrophe im nächsten Jahr will er aber noch „mitnehmen“. Und ob er überhaupt danach mit dem Thema aufhört — oder erst richtig anfängt? „Gehetzt von der schnell dahineilenden Zeit vergißt die Menschheit, was in Tschernobyl passiert ist“, sinniert Georgi Schklarewski. „Meiner Überzeugung nach fängt aber ,Tschernobyl‘ heute doch erst richtig an. Die schrecklichsten Erfahrungen stehen uns als Folgen dieser Katastrophe noch bevor, vor allem, was ihre Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen betrifft.“ Mit den neuesten Erkenntnissen darüber beschäftigt sich sein gerade fertiggestellter Film „Das Tschernobyl- Syndrom“. Barbara Kerneck