Erfassen, Verschieben, Vernichten

Über „Endlösung“, Götz Alys bahnbrechende historische Studie zum Zusammenhang der nationalsozialistischen Politik der „Völkerverschiebung“ mit der Entscheidung zur Ermordung der europäischen Juden  ■ Von Raul Hilberg

Götz Aly hat vor elf Jahren mit einem dünnen Buch, das er zusammen mit Karl-Heinz Roth geschrieben hatte, angefangen. Es hieß „Die restlose Erfassung“, und die Ergebnisse seiner Forschung wurden sofort von Holocaust-Forschern als überraschend einleuchtende Auffassung erkannt. Das Thema – wie Registrierungen und Ausweise gehandhabt wurden – war absolut neu. Ebenso ging es mit seinen nachfolgenden Arbeiten, hauptsächlich mit der großen Studie „Vordenker der Vernichtung“ (zusammen mit Susanne Heim), in der Aly die Musterlösungen der Ökonomen und Statistiker erhellte.

In der soeben erschienenen Arbeit „Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden“ behandelt Götz Aly weitere von der Forschung übersehene Aspekte der Vernichtung, insbesondere verborgene Zusammenhänge und Zwischenstationen im Gange der Entschlußbildung zur „Endlösung“.

Der Versuch, den Holocaust in einem solchen Kontext darzustellen, ist schon längst eine Notwendigkeit. Vor einigen Jahrzehnten noch war die Vernichtung der Juden ein Gegenstand für wenige Spezialisten, als Thema der Alltagslektüre fast ein Tabu. Spät erst änderte sich dies, und zwar in der Form eines Protestes gegen die frühere Verdrängung. In den damals erscheinenden Monographien wurde das Geschehene isoliert und gleichsam in ein wissenschaftliches Ghetto eingekesselt. Allmählich erschien dann der Holocaust als ein außer- und übergeschichtliches Phänomen, von allen anderen Ereignissen separiert. Aly hat den Kampf mit dieser Trennung aufgenommen und nun in „Endlösung“ die Perspektiven bedeutend erweitert.

In dem von Aly vergrößerten Rahmen der Betrachtung macht die Bevölkerungspolitik einen Schwerpunkt aus. Diese Politik wurde beflügelt von Ideen einer Völkerverschiebung, die der „Festigung des deutschen Volkstums“ dienen sollten. So wurden nach dem Polenfeldzug Verträge mit befreundeten Staaten, einschließlich der Sowjetunion, geschlossen, um Volksdeutschen aus Teilen oder den gesamten Territorien dieser Länder die „Rückkehr“ nach Deutschland zu ermöglichen. Umgekehrt wurde in den neu eingegliederten, dem besiegten polnischen Staat entrissenen Gebieten die „Aussiedlung“ polnischer und jüdischer Menschenmassen vorbereitet, um den Volksdeutschen die „Ansiedlung“ zu ermöglichen. Allerdings ist dieser Vorgang weder eine genuine Erfindung Adolf Hitlers noch ein abgeschlossenes Stadium der Geschichte. Völkeraustausch, Massenflucht, forcierte Auswanderung, Ausstoßung, Deportierung und „ethnische Säuberung“ in allen Varianten sind in unserem Jahrhundert immer wiederkehrende Erscheinungen. Auch das Sterben entwurzelter Flüchtlinge ist keine Seltenheit. Die nationalsozialistische Epoche ist hier jedoch von einem ausgesprochen zielbewußten Handeln geprägt. In den Kriegsjahren gab es Nahpläne, Fernpläne und einen Generalplan Ost. Alles wurde erwogen und organisiert. Ein Verhungern der Opfer wurde schlichtweg in Kauf genommen, und das Töten wurde nicht etwa für Abschreckungszwecke inszeniert, sondern war als „Lösung“ vorgesehen.

Hier nur einige der von Götz Aly gelieferten Beispiele: In Lodź sollte für 15.000 urbane Baltendeutsche Platz geschaffen werden, indem man Juden in die nördlichen Stadtteile, die für das spätere Ghetto vorgesehen waren, vertrieb. Ein ähnlicher Schlag erwartete die Polen, die die neuen „Ostgaue“ räumen sollten, damit die ländlichen Wolhyniendeutschen ihren Boden besetzen konnten. Juden im westlichen Teil des Distrikts Warschau wurden in das Warschauer Ghetto eingewiesen, um den Polen, die die eingegliederten Gebiete verlassen mußten, Unterkunft zu verschaffen. Für Volksdeutsche, die ihre neue Heimat in dem Kreis Zamość des Distrikts Lublin gründen sollten, wurden Polen ausgewiesen, die dann teilweise nach Berlin transportiert wurden, wo sie wiederum jüdische Arbeiter ersetzten, die in Auschwitz ihr Ende fanden.

Auch den finanziellen Kreislauf wollte man auf diese Weise laufen lassen. Die Ursprungsländer der Volksdeutschen verpflichteten sich, für das zurückgelassene Gut der Auswanderer 3.315.000.000 Reichsmark an das Reich zu zahlen. Die volksdeutschen Ansiedler sollten dann polnisches oder jüdisches Eigentum als Naturalrestitution erhalten. Allerdings ging die Rechnung nicht immer auf wie beabsichtigt. Am 1. April 1941 befanden sich von den 466.000 Volksdeutschen aus Rumänien, den Baltenländern und Wolhynien-Ostgalizien noch 246.000 in Lagern. Schließlich konnte man nicht alle Polen entfernen. Nur die „Judenfrage“ wurde „gelöst“. Die Juden wurden in Ghettos zusammengetrieben, und nachdem die unhaltbaren Zustände wie Arbeitslosigkeit und Fleckfieberepidemien unter den Insassen das Gemüt der deutschen Verwalter betrübten, kam es zu einer „Endlösung“ in den Gaskammern. Ganz leicht war es aber nicht. Götz Aly weist auf manche Stationen auf dem Weg zur Entscheidung hin, wie etwa auf den schriftlich festgehaltenen Wunschtraum der Sicherheitspolizei vom Dezember 1940 bezüglich einer „Umsiedlung“ von 5,8 Millionen Juden in ein noch nicht bestimmtes Territorium; oder das Besprechungsprotokoll von General Thomas und Staatssekretär Körner vom 31. Juli 1941 über einen etwaigen Einsatz geschlossener jüdischer Arbeitskolonnen im Osten; des weiteren die Meinung Reinhard Heydrichs, die Goebbels in seinem Tagebuch am 24. September 1941 notierte, daß die kommunistischen Arbeitslager in der Gegend des Eismeers ein geeignetes Ziel für elf Millionen Juden wären; oder Anfang Dezember 1941 die Bestellung der Bauinspektion Rußland Mitte – zwei Einäscherungsöfen mit je acht Muffeln, die für Mogilew versandbereit waren, dann aber nach Auschwitz abgezweigt wurden.

Wenn man heute in einem ehemaligen sowjetischen Archiv den Schriftwechsel der deutschen Besatzungsorgane durchsucht, sieht man schon öfters auf einem beiliegenden Blatt die Unterschrift eines früheren Besuchers: Götz Aly. Diese letzten größeren Aktenberge sind nun zugänglich, und was dort nicht aufgefunden werden kann, wird höchstwahrscheinlich nirgends mehr zum Vorschein kommen. Man kann schon Merkmale solcher Grenzen in Alys Schlußkapiteln sehen. Man erblickt die Fragezeichen und ahnt, daß manche Vermutungen nie in festliegenden Fakten verankert werden können.

Doch es bleibt dieses wichtige Buch, und es besteht Hoffnung auf künftige Einsichten dieses einzigartigen Fragestellers und genialen Autors.

Götz Aly: „Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden“. S. Fischer Verlag, 446 Seiten, geb., 3 Karten, 48 DM