„So viele Helden kann es gar nicht geben“

■ Interview mit dem Psychoanalytiker und Buchenwald-Überlebenden Ernst Federn über die Rolle der roten Kapos im Konzentrationslager und den Mythos vom unbefleckten Widerstand

Ernst Federn wurde 1914 in Wien geboren, wo er auch heute wieder lebt. Sein Vater, Paul Federn, war einer der engsten Vertrauten und Mitarbeiter Sigmund Freuds. Ernst Federn ist jüdischer Herkunft und Psychoanalytiker. Im März 1938 wurde er von der Gestapo verhaftet, nach Dachau deportiert, anschließend ins Konzentrationslager Buchenwald. Dort blieb er bis Kriegsende, arbeitete als Nachtwächter und Maurer. Als Student stand Federn den Ideen Trotzkis nahe und war einer der Mitbegründer der österreichischen Sektion der 4. Internationale.

taz: Herr Federn, in der DDR wurde die Rolle der Kommunisten im Konzentrationslager Buchenwald heroisiert. Nun ist diese Rolle durch die Veröffentlichung der SED-„Geheimakte Buchenwald“ in Frage gestellt worden. Wer in der DDR mit einem verklärten Bild vom Antifaschismus aufwuchs, muß nun seine Vorstellung vom unbefleckten kommunistischen Widerstand revidieren. Kann das funktionieren?

Ernst Federn: Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Die DDR-Nomenklatura hat aus den Widerständlern Helden gemacht und dieses Bild bis zur Wende aufrechterhalten. Übrigens auch die angebliche Selbstbefreiung von Buchenwald. Aber das sind Märchen, die man nur in einer Diktatur streuen kann. Einer demokratischen Gesellschaft kann man das nicht erzählen. Die ganze DDR war doch ein Märchen, wie überhaupt der Kommunismus: In der Sowjetunion hat es fürchterliche Klassenunterschiede gegeben.

Wie wirkt die Demontage des antifaschistischen Mythos auf die Seele eines DDR-Bürgers?

Das ist ein Schock. Aber es ist natürlich nicht das erste Trauma für die Ostdeutschen. Es hat ja zuvor auch schon Traumata gegeben: den Niedergang der DDR und des Kommunismus. Die Leute wissen doch, daß es so viele Helden gar nicht geben kann – wenn es überhaupt einen einzigen gibt. Das ist ein großes Problem für die Deutschen. Man muß aber die historische Wahrheit akzeptieren, man muß sehen, daß die Welt anders ausschaut, als man geglaubt hat. Die Kommunisten haben sich in Buchenwald benommen wie Kommunisten sich überall auf der Welt benehmen. Sie sind der Meinung, ihre Partei ist alles, und daraus wird eine wunderbare Welt. Aber Kommunisten sind keine Demokraten. Meine Kritik ist, daß man hinterher Heldengeschichten daraus gemacht hat.

Der Historiker Lutz Niethammer hat in einer Dokumentation die zwiespältige Rolle der roten Kapos dokumentiert, die auch Trotzkisten umgebracht haben sollen. Er schreibt, die roten Kapos hätten als eine Art Dämpfer fungiert zwischen KZ-Häftlingen und der SS, hätten unter anderem verhindert, daß Häftlinge auf Todesmärsche geschickt wurden.

Die roten Kapos haben das Wegschicken nicht verhindert, sie haben dabei mitgearbeitet. Sie haben natürlich ihre eigenen Leute, wenn sie konnten, zu retten versucht. Was die Morde an Trotzkisten angeht, so ist mir ein Fall bekannt, in dem rote Kapos einen jüdischen Trotzkisten, den ehemaligen Reichstagsabgeordneten der KPD, Werner Scholem, bei der SS denunziert haben. Scholem wurde dann von der SS umgebracht.

Eugen Kogon, der ebenfalls in Buchenwald war, hat in seinem Standardwerk „Der SS-Staat“ die ambivalente Rolle der kommunistischen Häftlingsselbstverwaltung beschrieben: „Fest steht nur, daß viel Positives unter hohen Opfern erreicht worden ist.“ Was kann Kogon mit „Positivem“ gemeint haben?

Die Kriminellen waren nur aufs Geld aus und korrupt. Die Kommunisten hingegen haben erreicht, daß innerhalb des Lagers nicht mehr geschlagen wurde und daß man sich nicht gegenseitig etwas wegnahm, nachdem die Lagerverwaltung in ihre Hände übergegangen war. Man muß sagen, daß die Kommunisten das Lager ordentlich verwaltet haben. Aber sie haben natürlich die guten Positionen mit ihren Leuten besetzt: erst die Kommunisten, dann noch mal die Kommunisten und dann die, die ihnen freundlich gesinnt waren. Das war die stalinistische Einstellung zur Macht und ihrer Ausnutzung.

Niethammer schreibt, die SS und die Häftlingsselbstverwaltung hätten keine „Kameraderie“ betrieben. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Man hat versucht, sich mit der SS zu verständigen, es gab eine ständige Zusammenarbeit. Phasenweise eine sehr gute sogar. Und das hat natürlich auch sehr viel geholfen. Aber diese Zwiespältigkeit ist eigentlich für den heute Lebenden unverständlich.