■ Und immer wieder donnerstags tagt die SPD-Zukunftsfolgenabschätzungskommission
: Vorwärts, doch vergessen wohin

Ernst Jünger ist hundert geworden und Dany Cohn-Bendit fünfzig. Rudolf Scharping aber ist immer noch siebenundvierzig und läuft jetzt schon herum wie sein eigener Großvater. Das „sozialdemokratische Jahrhundert“ (Sir Ralf), das namhafte Historiker schon im Spätherbst 1989 für beendet erklärten, hat neben allen Kämpfen und Katastrophen, neben Faschismus, Stalinismus und demokratischem Fortschritt eine einzigartige Daueraufführung hervorgebracht: Warten auf Godot, auf das Coming out der Enkel von Willy Brandt, der Söhne von 1968. Von den Töchtern ganz zu schweigen.

Aber sie kommen einfach nicht. Statt dessen bestraft sie das Leben. Die Parteivorsitzenden, Kanzlerkandidaten und Geschäftsführer lösen einander in ihren Niederlagen ab wie die Kreisläufer eines Staffellaufs, und während August Bebels Uhr die Besitzer wechselt, regiert Helmut Kohl solange, bis die schwarz-grüne Option in greifbare Nähe rückt, weil sie die einzige Alternative zur Großen Koalition darstellt.

Der schleichende, aber unübersehbare Niedergang der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, deren Kurve ein halbes Jahr nach der verlorenen Bundestagswahl (36,4 Prozent) weiterhin nach unten zeigt, hat komplexe gesellschaftliche wie parteistrategische Ursachen. Doch eine Frage, die mit Vorliebe der Wähler und die Wählerin stellt, schwebt einsam über dem größer gewordenen Land: Wenn CDU/CSU und FDP für den Status quo stehen, wofür steht dann die SPD? Das weiß kein Mensch. Trotz aller Programme, Reden und Pressekonferenzen, dies- und jenseits aller Seeheimer, Frankfurter und anderer Kreise. Nicht zu reden von jenen „Jungsozialisten“, die einst unter dem Menetekel „Jusos“ Angst und Schrecken verbreiteten, zuweilen auch ein paar diskussionswürdige Ideen in die Debatte warfen. Heute macht jede Anliegerinitiative in Berlin-Charlottenburg mehr von sich reden.

„Rudi Arndt, wir haben dich gewarnt!“ Als die Frankfurter Spontis vor exakt zwanzig Jahren sich von der umkämpften Straße aus derart an den sozialdemokratischen Oberbürgermeister der Bankenmetropole wandten, konnten sie nicht ahnen, wie zukunftsweisend dieser fürsorglich-rhetorische Kassandraruf war. Heute verfügt die SPD im einst roten Frankfurt über gerade noch dreißig Prozent der Wählerstimmen, und ihre Intimfeinde von ehedem, als erfolgreiche Grüne längst in Amt und Würden, sind vollauf damit beschäftigt, den überschuldeten Kommunalhaushalt zu sanieren, die Umweltprobleme einer Großstadt in Grenzen zu halten und die multikulturelle Realität in vernünftige, möglichst konfliktarme Bahnen zu lenken.

Daß nun, nach dem hausgemachten SPD-Chaos bei der Frankfurter Dezernentenwahl, die Grünen schon wie selbstverständlich als Garanten politischer Stabilität gelten, ist mehr als eine Ironie der Geschichte. Es ist die schlichte, für einige schon gefährlich normale Wahrheit. Auch in Wiesbaden sorgten allein sie für die Fortsetzung der rot-grünen Koalition mit einer SPD, die ihre alte Stärke verloren, eine neue Orientierung aber noch nicht gefunden hat. In Hannover gerät die SPD-Alleinregierung womöglich bald ins Schleudern. Und in NRW.

Dabei kämpfen die Sozialdemokraten nicht nur mit ihrem Problem an der Spitze von Partei und Bundestagsfraktion. Auch an der berüchtigten „Basis“, im Bezirk und im Stadtteil, haben sich die traditionellen Kräfteverhältnisse und sozialen Zusammenhänge aufgelöst. Der erste grüne Justizminister, Rupert von Plottnitz, nicht gerade ein die Volksmassen mitreißender Wahlkampfredner, erzielte in Frankfurt mehr als 25 Prozent der Stimmen.

Ganze Milieus haben sich neu gebildet oder verändert, auf die die SPD kaum noch Einfluß ausübt. Und es sind nicht nur die sogenannten neuen Mittelschichten mit ihren „weichen“, postmateriellen Themen. Es geht um eine ganze politische Generation, die den Sozialdemokraten abhanden kam – leicht könnten noch ein paar dazu kommen. Seit dreißig Jahren wird die (Nachkriegs-)Fehde zwischen der Traditionspartei des Fortschritts und jenen älter gewordenen „Neuen Linken“ ausgetragen, die ihr ostinat mangelnde Radikalität und kompromißlerische Inkonsequenz, ja, den Pakt mit den „Herrschenden“ als Teil des „Systems“ vorhielten.

Tiefe Haßliebe prägte das Verhältnis. Die gegenseitigen Beschimpfungen sind Legende, die symbolischen Orte Geschichte: Berlin, Brokdorf, Startbahn West, Mutlangen. Die prekäre Beziehung von SPD und außerparlamentarischer Bewegung war stets auch eine Beziehungskiste von Hoffnung und Enttäuschung.

Ein letztes Mal zog das vor zehn Jahren geborene „rot-grüne Projekt“ einer sozialökologischen Republik den verbliebenen Teil sonst abgeschriebener utopischer Energien auf sich. Auch hier ist an den Zwängen der Realpolitik vieles zuschanden geworden, doch der schmerzhafte wie heilsame Druck auf Lebenserfahrung und Reflexionsvermögen führte immerhin zu Ergebnissen: Eingeständnis von Irrtümern, bessere Konzepte, revidierte Strategien, mehr Kompetenz – bei den Grünen.

Die SPD, im Vollgefühl ihrer Jahrhunderterfahrung, schien eine solche Revision nicht nötig zu haben. Das war der größte Irrtum. Allenfalls quälend langsam befreite man sich da und dort von liebgewonnenen, anachronistischen Vorstellungen. Doch ob es um die Wirtschafts- und Sozialpolitik, um Ökologie oder Außenpolitik geht, stets verbindet sich ein müde gewordener Fortschrittsglaube mit dem Vollzug einer rituellen Parteiräson und jenem strukturellen Konservativismus, der die deutsche Sozialdemokratie als gigantische Wohngemeinschaft charakterisiert: Den eigenen Laden verteidigen gegen die Welt draußen, intellektuellen Einzelgängern mißtrauen, die laufenden Geschäfte regeln – und donnerstags tagt die Zukunftsfolgenabschätzungskommission: Vorwärts – doch längst vergessen, wohin. Auch die nach martialischen Solidaritätsappellen immer wieder aufflammenden Diskussionen in der Partei sind weniger Ausdruck pluralistischer Gedankenfülle als parteiinterner Machtabgrenzung und Besitzstandswahrung. Sie verdecken kaum die tiefe Unlust auf die Regierungsverantwortung im Bund. Daß die Parteibasis sich vor bald zwei Jahren für Scharping statt für Schröder entschied, war ein deutliches Zeichen der sozialdemokratischen Seele, die lieber fragt: „Wer bin ich?“ als „Was will ich?“ So könnte es kommen, daß die Grünen und Ex-Linken aus den siebziger und achtziger Jahren, von der historischen Dialektik mit der Sozialdemokratie emanzipiert, in den Neunzigern nicht mehr auf die Enkel warten, sondern selbst die Initiative ergreifen. Dann wird auch Joschka Fischer fünfzig sein. Reinhard Mohr

Freier Autor, lebt in Frankfurt/Main