Wer obdachlos war, vergißt das nie

■ Gesichter der Großstadt: Einst alkoholkrank und obdachlos, hat Frank Kußmaul die Obdachlosen-Zeitung "Platte" aufgebaut und plant nun einen "Wohnpark" in Bernau

Frank Kußmaul hätte es sich einfacher machen können. Kaum hatte er den rasanten Aufstieg vom Obdachlosen zum Inhaber einer kleinen Firma für Autobeschriftung und Visitenkarten geschafft, gab er die aufgebaute Existenz wieder auf. Statt dessen begann er vor einem Jahr, mit einer Gruppe von Obdachlosen die Zeitschrift Platte zu produzieren.

„Wer einmal obdachlos war, vergißt das nie“, sagt er. „Warum sollen die Leute auf der Straße krepieren, wenn die Jobs auf der Straße liegen?“ fragte sich der 37jährige. Der Verkauf der Zeitung sollte den obdachlosen Verkäufern wieder auf die Beine helfen und zugleich das Startkapital für weitere Projekte erwirtschaften. Beim Management der Platte kommen dem Einzelhandelskaufmann seine Lehrjahre in einem Spandauer Farben- und Tapetenhandel zugute. Das Selbsthilfeprojekt hat sich binnen eines Jahres zu einer GmbH mit sechs Angestellten gemausert, darunter ein gelernter Schriftsetzer und ein Karikaturist. Auch wenn dabei kein dickes Gehalt rausspringt, „zum Leben reicht es“. Zu den „Ablegern“ der Zeitschrift gehören ein angemietetes Haus in Treptow, das als Notunterkunft dient, ein gebrauchter LKW, mit dem ehemalige Obdachlose demnächst Transporte und Umzüge machen werden, und ein zwei Hektar großes Pachtgelände in Bernau, auf dem der „Obdachlosen-Wohnpark“ entstehen soll (siehe Artikel unten). „Wir kriegen wat auf die Reihe“, sagt Kußmaul.

Als einer der vier Gesellschafter der GmbH hat Frank Kußmaul bislang auf ein festes Gehalt verzichtet. Er wohnt im Dachgeschoß über den Redaktionsräumen in Hohenschönhausen. Außer Geld für Lebensmittel braucht er nicht viel. „Ich hab' nicht mehr als ein Sozialhilfeempfänger, aber ich hab' alles, was ich brauche.“

Es ist eine seltene Mischung aus Unternehmergeist und Gemeinschaftssinn, die ihn motiviert. „Ich hab' 'ne soziale Ader. Jeder hat die in sich, und es kommt darauf an, die wieder zu wecken und nicht zu unterdrücken“, philosopiert er. „Alles, was ich mache, tut mir gut, um mein ,trockenes‘ Leben weiterzuleben“, stellt der frühere Alkoholiker fest. „Ich will die Hilfe, die ich selbst erlebt habe, an andere weitergeben.“ „Trocken“ ist Frank Kußmaul seit viereinhalb Jahren. Mit elf Jahren fing er an, als „lustvoller Trinker, nicht weil ich Probleme hatte.“ Später, als er mit 21 „auf Erdölmontage ging“, wurde abends in den Camps in Nordafrika kräftig getrunken. „Alkohol wurde zu meinem Lebenselixier. Ich habe gar nicht gemerkt, wie ich abhängig wurde.“

Bis er deswegen den Job aufgeben mußte und nach Berlin zurückkehrte, arbeitete Kußmaul sieben Jahre lang als Hydraulik-Ingenieur. „Ich war auf allen Bohrtürmen in Algerien, in Libyen und Ägypten und bis nach Mali runter.“ Die Arbeit hat ihm „irren Spaß“ gemacht. „Das war bisher die schönste Zeit meines Lebens – außer dem, was noch vor mir liegt“, sagt er.

„Ich war in meiner Freizeit oft in den arabischen Familien, zum Teetrinken.“ Daß die Leute dort „nicht immer nur an sich denken“, sondern sehr gemeinschaftlich leben, hat ihn „beeindruckt“.

Von diesem Gemeinschaftsgeist ist auch der geplante „Obdachlosen-Wohnpark“ inspiriert. „Nur 'ne Gruppe schafft das, ein einzelner schafft das nicht“, sagt Kußmaul.

Der schmächtige, dünne Mann ist der stille Macher, der eher im Hintergrund organisiert. „Jeder soll sich seinen Verantwortungsbereich erarbeiten und da reinwachsen“, lautet sein Konzept. Jeglicher sozialarbeiterische Drang ist ihm fremd. Entweder ziehen die Leute von sich aus mit, oder sie lassen es bleiben. Schon seit dem letzten Sommer gibt es einen festen Kern von Leuten, die die Platte nicht nur als Möglichkeit zum Geldverdienen sehen, sondern etwas mit aufbauen wollen. „Man kann nicht immer darauf warten, daß der Staat etwas tut, man muß von unten her anfangen“, findet Kußmaul. Die etwas naive Hoffnung, daß die Eigeninitiative von Obdachlosen mit staatlicher Unterstützung belohnt wird, hat er spätestens nach der Räumung des Obdachlosendorfes im Rittergut Stolpe verloren. Daß er in diesen Tagen den Prozeß vor dem Landgericht Neuruppin gewonnen hat und das Gericht die Räumung für „rechtswidrig“ erklärt hat, ist ein kleiner, nachträglicher Triumph. Dennoch setzt er seitdem lieber auf die freie Marktwirtschaft.

Nach Diskussionen in der Gruppe vertreten Kußmaul und einige andere sogar die Ansicht, daß man die Sozialhilfe abschaffen sollte. Statt dessen sollte das Geld lieber in Wohn- und Arbeitsprojekte für Obdachlose gesteckt werden – sozusagen ein staatliches „Hilfe zur Arbeit“-Programm in Eigenregie. Eine sympathische Utopie, die allerdings von dem Idealzustand ausgeht, daß sich jeder an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Dorothee Winden