"Der Druck nimmt zu"

■ Der Berufswechsel wird zur Norm / Etwa jeder fünfte verschlechtert sich / Fluktuation im Osten besonders hoch

Schuster, bleib bei deinem Leisten – mit diesem Leitspruch kommen Arbeitnehmer heutzutage oft nicht mehr sehr weit. Auch wenn die Karriere vom Pianisten im Stripteaselokal zum Kulturjournalisten (siehe Seite 15) eher selten ist, wird Flexibilität im Beruf immer wichtiger. „Quereinsteiger sind keine Randgruppe, sondern die Norm“, behauptet Melanie Nassauer, Pressesprecherin des Landesarbeitsamtes Berlin und lebendiges Beispiel für ihre These: Sie hat eine Ausbildung als Juristin absolviert.

Der Trend zum Berufswechsel nimmt deutlich zu, und auch die Ausbildung sagt nicht mehr viel darüber aus, welcher Job die Azubis erwartet. Doch der Trend ist nicht neu: „Selbst unsere Großeltern waren schon vor das Problem Berufswechsel gestellt“, weiß Karen Schober. Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg sieht neben technischen Veränderungen eine wichtige Ursache für die wachsende Mobilität in der Arbeitswelt in den bewegten historischen Ereignissen während dieses Jahrhunderts.

Trotzdem, wendet Schober ein, habe sich die Situation in den letzten Jahren drastisch verändert: „Früher war Berufswechsel vor allem mit der Chance zum Aufstieg verbunden, während heute verstärkt Anpassungsdruck zur Flexibilität zwingt, ohne daß eine Verbesserung damit verbunden ist.“ Eine eingleisige Karriere von der Lehre bis zur Rente ist andererseits schon durch die Strukturierung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen nur für wenige möglich. Auf 370 verschiedene Ausbildungsabschlüsse kommen rund 25.000 Berufsbenennungen. Da bleibt es nicht aus, daß der Job oft nicht im direkten Zusammenhang mit der Ausbildung steht.

Laut Berufsbildungsbericht 1994, der vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft herausgegeben wurde, beträgt der Anteil derjenigen, die in ihrem „Ausbildungsberufsbereich“ verbleiben, 62 Prozent. Dabei sind jedoch nicht die Wechsel innerhalb eines Berufsbereiches berücksichtigt worden. Das heißt: Der Sprung von der Kindergärtnerin zur Arzthelferin oder vom Sparkassenkaufmann zum Verkäufer in einem Warenhaus fällt unter den Tisch. Diese Wechsel drücken die sogenannte Verbleibquote auf 56 Prozent. Der strukturelle Wandel in Ostdeutschland läßt sich am Ost- West-Gefälle dieses Wertes deutlich ablesen: Nur 53 Prozent der Neufünfländer verblieben im ursprünglichen Ausbildungsberuf. Im Westen sind es immer noch satte 11 Prozent mehr.

Auch in den verschiedenen Berufsbereichen ist der Anteil der Wechsler sehr unterschiedlich. Lothar Schaeffer, Berufsberater beim Berliner Arbeitsamt: „Besonders stark ist die Fluktuation im Dienstleistungs- und Technikbereich.“ Dies zeige sich auch in den zunehmenden Angeboten für Weiterbildung in diesen Sektoren. Eine Ausnahme bilden hier jedoch personenbezogene Dienstleistungsberufe, wie zum Beispiel Lehrer oder Arzt: Nicht nur die Zahl derer, die nach ihrer Ausbildung in ihrem Job weitermachen, ist laut Berufsbildungsbericht in diesem Bereich überdurchschnittlich hoch. Auch der Anteil derjenigen, die in diesem Bereich arbeiten und die entsprechende Ausbildung mitbringen, ist gewichtiger als anderswo.

Der Grund dafür liegt in der Fachkompetenz, die in diesen Berufen gefordert ist. Bereiche, in denen vielfach keine fachbezogene Ausbildung angeboten wird, zeichnen sich andererseits durch einen hohen Zustrom aus anderen Sparten aus. Dazu zählt unter anderem das Feld der Waren- und Dienstleistungskaufleute. Ob ein Wechsel stattfindet beziehungsweise überhaupt als solcher wahrgenommen wird, hängt nicht zuletzt auch vom Ausbildungsgrad des einzelnen ab.

„42 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland haben den Berufsbereich mindestens einmal gewechselt, aber nur 36 Prozent gaben an, dies getan zu haben.“ Zu diesem Ergebnis kam Rolf Jansen in der Erhebung über „Qualifikation und Erwerbssituation im geeinten Deutschland“. Die Untersuchung wurde 1992 vom IAB und dem Bundesinstitut für Berufsbildung vorgenommen. Jansen interpretiert: „Personen mit einer qualifizierten Berufsausbildung empfinden einen Berufswechsel erst dann, wenn eine Tätigkeit übernommen wurde, die nicht mit dem erlernten Beruf ausgeübt werden kann.“ Bei den Nichtqualifizierten wiederum, so der Arbeitsmarktspezialist, wird der Beruf ausschließlich mit dem konkreten Arbeitsplatz gleichgesetzt.

Auch die Gründe für einen Berufswechsel hat Jansen analysiert: „Ich hatte andere Interessen und wollte deshalb etwas anderes machen“, gaben 26 Prozent der Westdeutschen und 23 Prozent der Ostdeutschen als wichtigsten Grund für ihren letzten Wechsel an. Der finanzielle Anreiz stand für jeden fünften in den alten und jeden sechsten in den neuen Ländern im Vordergrund. Für immerhin 29 Prozent der Befragten war der Berufswechsel erzwungen. „Die Situation ist für die Arbeitnehmer sehr zwiespältig“, resümiert Jansen: „Während sich im Westen für 35 Prozent die berufliche Position durch einen Wechsel deutlich verbessert, erfahren über ein Fünftel der Befragten diesen als Verschlechterung.“ In den neuen Ländern ist die Situation noch gespannter.

Schaeffer setzt dem entgegen: „In zunehmendem Maße brechen traditionelle Beschäftigungsmöglichkeiten vom Arbeitsmarkt weg.“ Da sei die Entwicklung von Fortbildungsmöglichkeiten dank neuer Techniken immerhin besser als nichts. Eine Ausnahme bildet Berlin. Die Hauptstadtplanungen lassen das Handwerk und den Baubereich boomen. Traditionelle Arbeitsmarktsektoren haben hier mittelfristig rosigere Aussichten als anderswo in Deutschland. Ärgerlich für den Berliner Bauarbeiter ist jedoch: Viele Aufträge werden von auswärtigen Firmen durchgeführt. Hiesige Arbeitnehmer können sich also auch nicht zurücklehnen. Nur der Schuster kann bei seinem Leisten bleiben, denn im Handwerk ist die Fluktuation immer noch am geringsten. Lars Klaaßen