Fünfzehn Jahre für vermeintliche Werwölfe

■ „Sechs Weihnachten“: Juliane Geicks Film zum „Fall Greußen“ im Babylon

Noch im Mai 1945 dachte meine Mutter, damals 15 Jahre alt, daß die Hitler-Jugend auch unter sowjetischer Besatzung weiterbestehen würde. Nur wenig später wurde sie, wie viele andere Jugendliche in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone, unter dem überraschenden Vorwurf der „Werwolf-Tätigkeit“ verhaftet und in ein Lager für ehemalige Nazi-Funktionäre gesperrt.

Ähnlich ahnungslos muß wohl der gleichaltrige Kurt Weiss im thüringischen Greußen gewesen sein, als er beim Anblick der ersten amerikanischen Panzer zu seinem Freund sagte: „Horst, wenn erst die Wunderwaffe kommt, dann schlagen wir die alle wieder raus!“

Die Nazi-„Wunderwaffe“ war freilich ein Phantom, die Amis zogen von sich aus wieder ab, und sowjetische Truppen rückten ein. Das zunächst unerwartet einfache Arrangement der Greußener Bevölkerung mit den Sowjets findet bereits im Winter 1945 ein jähes Ende, als 38 Jugendliche, darunter auch Kurt Weiss, als vermeintliche Angehörige der Nazi-Untergrundorganisation „Werwolf“ verhaftet werden. Auf der Grundlage von erzwungenen Geständnissen verurteilt ein sowjetisches Militärtribunal die Jugendlichen zu Haftstrafen zwischen 10 und 25 Jahren, über drei von ihnen wird die Todesstrafe verhängt, in einem Fall wird sie auch vollstreckt. Von den übrigen überleben 14 die fünfjährige Haftzeit im vormaligen Nazi- KZ Sachsenhausen.

Vier der Überlebenden stellten sich vor der Kamera den Fragen von Juliane Geick. Nüchtern erzählen die Männer von den Stationen ihres Leidensweges, der vor 50 Jahren in Greußen begann: die unerwartete Verhaftung; die Verhöre unter Schlägen, die erst ein Ende nehmen, nachdem das bereits ausgearbeitete Schuldgeständnis unterschrieben ist; die Gerichtsverhandlung; Hunger, Kälte und Tod im Lager.

Der sachliche, um Genauigkeit bemühte Bericht der Männer bricht dort jäh ab, wo die Erinnerung an das Erlebte allzu gegenwärtig wird. Nur mit Mühe kann Karl Heinz Anders (Jahrgang 1928) erzählen, wie er eines Tages beim Blick aus dem Gefängnisfenster seine Mutter auf der anderen Seite der Mauer entdeckt. Als der Sohn ihr bedeutet, daß die mit dem Finger in die Luft gemalte „15“ weder Wochen noch Monate, sondern Jahre bedeutet, schlägt die Frau die Hände vors Gesicht und wendet sich verzweifelt ab.

Die Sensibilität, die die Filmemacherin bei den Interviews beweist, wirkt sich wohltuend auf den gesamten Film aus: Nirgends eine der ebenso wohlfeilen wie fatalen Gleichsetzungen von NS-Regime und Stalinismus, nirgends die pauschale Verdammung „des Russen“ oder „der Kommunisten“. Der differenzierte Umgang mit der Thematik gleicht gelegentliche Ungeschicklichkeiten bei Auswahl und Präsentation des illustrierenden Bildmaterials aus.

Anstelle einiger allzu didaktisch geratener Bebilderungsversuche (dem ergreifenden Bericht über die Weihnachtsabende im Lager folgt unweigerlich der von Choralgesängen untermalte Schwenk über brennende Kerzen) hätte man sich mehr Zusatzinformationen gewünscht. So bleiben etwa tatsächlicher Umfang und Reichweite von „Werwolf“-Aktivitäten im besetzten Deutschland unklar. Und auch zu den Motiven der sowjetischen Besatzungsbehörden (deren Wunsch nach Bestrafung der aktiven Nazis mehr als verständlich ist – aber warum die Verhaftung von Kindern und Jugendlichen?) erfährt man nichts.

Bleibt noch nachzutragen, daß der Denunziant, aufgrund dessen Angaben die Jugendlichen verhaftet wurden – ein KPD-Mitglied, das bei der Postenvergabe nach der Befreiung übergangen worden war –, bereits im Sommer 1946 wegen seiner Falschaussage zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wird. Den Jugendlichen, von denen zu dieser Zeit noch fast alle am Leben sind, nützt dies freilich wenig: Erst vier Jahre später werden die 14 Überlebenden im Zuge einer allgemeinen Amnestie entlassen. Friedemann Schmidt

„Sechs Weihnachten“ von Juliane Geick. 110 Min., Deutschland 1994, wieder am 27./29.3., 2.4., 19 Uhr, Babylon Mitte (Foyer), Rosa- Luxemburg-Straße 30, Mitte