NS-Verbrecher in Stasi-Akten entdeckt

■ Zentrale Erfassungsstelle für NS-Verbrecher hat 1.500 Namen erfaßt / Gegen 100 Beschuldigte wird bereits vorermittelt / Viel zuwenig Staatsanwälte verfügbar

Ludwigsburg (AFP) – Im Stasi- Archiv über NS-Verbrecher sind Hunderte von mutmaßlichen Tätern entdeckt worden, die zum Teil noch heute unerkannt in Westdeutschland leben. Die Zentrale Erfassungsstelle für NS-Verbrechen in Ludwigsburg teilte gestern mit, derzeit werde gegen weit über hundert Beschuldigte vorermittelt. In etwa 20 bis 30 Fällen sei mit Anklagen oder der Wiederaufnahme von Verfahren zu rechnen.

Nach Informationen des Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien hat die Ludwigsburger Behörde aus den acht Regalkilometer laufenden Stasi-Akten inzwischen eine Liste mit rund 1.500 Namen erstellt. Die vollständige Aufarbeitung der erst grob gesichteten Unterlagen wird sich dem Leitenden Oberstaatsanwalt Alfred Streim zufolge aber um bis zu zwei Jahre verzögern, weil der Erfassungsstelle Personal fehlt. Kleine Bundesländer wie Hamburg, Bremen und das Saarland aber auch Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein sind laut Streim nicht bereit, ihr Pflichtkontingent an Staatsanwälten zu stellen.

Derzeit sucht nur eine Staatsanwältin im Stasi-Archiv nach unerkannten NS-Verbrechern. Michel Friedman vom Zentralrat der Juden in Deutschland sieht darin einen „unerträglichen Zustand, daß der jetzt letzte Zugriff auf NS-Verbrecher nicht erfolgen kann wegen des Pseudoarguments, man habe nicht genug Mitarbeiter“. Dabei sei es ein Stück Glaubwürdigkeit des vereinten Deutschlands, sich dieser letzten Chance von Aufklärung zu stellen.

Simon Wiesenthal, Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, sagte zu dem Mißstand der dünnen Personaldecke in Ludwigsburg: „Die Leute dort geben ihr Bestes und arbeiten wunderbar.“ Er habe bereits im März 1993 den baden-württembergischen Justizminister Thomas Schäuble (CDU) auf den Skandal aufmerksam gemacht. Doch statt der Überstellung von acht zusätzlichen Staatsanwälten sei die Behörde verkleinert worden. „Es ist offensichtlich, daß die Politik das Interesse daran verloren hat, hier weiter tätig zu sein“, sagte Wiesenthal.

Die für die Bearbeitung des Stasi-Archivs zuständige Staatsanwältin Ursula Solf sucht inzwischen bei etwa 20 größeren Tatkomplexen nach NS-Verbrechern. Dabei handelt es sich unter anderem um Einsätze der Gestapo und des Sicherheitsdienstes, die während des Krieges am Schwarzen Meer „ganze Städte judenfrei geschossen haben“. In einem weiteren Komplex seien in Polen im Raum Stanislau unter dem Deckmantel der Partisanenbekämpfung „Dörfer ausgerottet und Waisenhäuser leer geschossen worden“.