■ Noch sind die Täter unbekannt, die gestern morgen eine Giftgasattacke gegen die Tokioter U-Bahn verübten. Das letzte große Attentat in der japanischen Hauptstadt liegt über 20 Jahre zurück...
: Anschlag auf die Lebensadern Tokios

Noch sind die Täter unbekannt, die gestern morgen eine Giftgasattacke gegen die Tokioter U-Bahn verübten. Das letzte große Attentat in der japanischen Hauptstadt liegt über 20 Jahre zurück. Waren jetzt Mitglieder einer obskuren Sekte am Werk?

Anschlag auf die Lebensadern Tokios

Es war ein wunderbarer Frühlingsmorgen in Tokio und der Tag, an dem die Schulen der Stadt ihre Abschlußfeiern veranstalten. In der U-Bahn der Hibiya-Linie, mit der die dreißigjährige Finanzexpertin Mayumi Oishi wie jeden Morgen ihren Arbeitsplatz im Tokioter Zentrum erreichen wollte, trugen die Fahrschüler festliche Anzüge und lärmten noch mehr als üblich. Doch kaum hatte der von Pendlern überfüllte Zug am Montag gegen 8.15 Uhr den Bahnhof von Kasumigaseki durchlaufen, begann eine höllische Reise, die für zwei Fahrgäste mit dem Tod endete.

„Erst begannen die Leute im Wagen zu husten, und ich wunderte mich, wie viele Menschen noch zu dieser Jahreszeit eine Erkältung haben“, erzählt Mayumi Oishi einige Stunden später auf der Notstation des Hiro-o-Krankenhauses der Stadt Tokio. Über 900 eilig hereingebrachte Notpatienten zählt man zu dieser Zeit in den Stadtkrankenhäusern. Die japanische Armee hält Teile der Innenstadt abgesperrt, die auch für Fußgänger nicht mehr zugänglich sind.

Saddam Hussein setzte Sarin gegen Kurden ein

Auf einem Notbett im Ärzte-Konferenzraum hat sich Frau Oishi derweil eng in eine hellbraune Samariterdecke gewickelt. Neben ihr keuchen Dutzende anderer Patienten. Doch inzwischen sind sechs Stunden seit den unheilvollen terroristischen Anschlägen auf die Tokioter U-Bahn vergangen. Das bisher allein von Saddam Hussein gegen die irakischen Kurden eingesetzte Kampfgas Sarin hat in dieser Zeit seinen stärksten Wirkungspunkt im Körper überschritten, und Oishi kann ihrer Firma am Telefon mitteilen, daß es für sie nun nicht mehr schlimmer kommen kann. Indessen steht für die junge Karrierefrau fest, daß sie bald wieder U-Bahn fahren werde, „nur ab jetzt mit Angst“.

Was passierte, als sich Mayumi Oishis Pupillen verkleinerten und ihr in der U-Bahn schließlich schwarz vor Augen wurde, haben andere Augenzeugen des Todeszuges zusammengetragen: Zahlreiche Passagiere brachen in sich zusammen, auf den Bahnsteigen spuckten andere Blut – doch der Zug fuhr noch immer weiter.

Vorwürfe wie nach dem Erdbeben von Kobe, als die japanischen Behörden und Sicherheitsdienste nur langsam reagierten, waren diesmal dennoch fehl am Platz: Das zuerst von den Deutschen 1938 entdeckte Todesgas Sarin war bisher als Terroristenwaffe unbekannt. Ein mörderischer Gasangriff in den Tunneln der Tokioter Ginza, des teuersten Stadtviertels der Welt – das läßt sich weder einplanen noch innerhalb jener Sekunden begreifen, die für insgesamt mindestens sechs Menschen gestern tödlich waren.

Der 52jährige Stationsvorsteher Kazumasa Takahashi bezahlte seine Hilfsbereitschaft innerhalb einer Stunde mit dem Leben. „Da liegt im Wagen so ein komisch riechender Gegenstand“, hatten ihn Fahrgäste unzureichend vorgewarnt. Da ging Takahashi zu der beschriebenen Stelle in der U-Bahn, nahm das evaporierende Giftpaket in die nackten Hände und brachte es mit in sein Büro. Seine Stationskollegen wurden später schwerkrank ins Krankenhaus eingeliefert, Takahashi aber starb noch auf dem Weg dorthin.

Derartige Bomben zum Anfassen sind die Sicherheitskräfte bisher eben nirgendwo auf der Welt gewöhnt. Dabei gab es ausgerechnet in Japan – und möglicherweise nicht zufällig – einen einzigen bekannten Präzedenzfall: Am 27. Juni letzten Jahres waren in der Provinzstadt Matsumoto in den japanischen Alpen sieben Menschen ums Leben gekommen, als das Nervengas Sarin ein ganz normales Wohnviertel vergiftete. Anschließend wurde ein Hobbychemiker als Verdächtiger festgenommen, der die Katastrophe selbst bei der Polizei angemeldet hatte. Doch den Behörden in Tokio erschien der Vorfall von Matsumoto als Provinzposse – ein eventuell folgenschwerer Fehler. Am Montag sagte der renommierte Tokioter Kriminalpsychologe Akira Fukushima: „Aufgrund der Ziellosigkeit der heutigen Anschläge, die deshalb mit Bombenanschlägen vergleichbar sind, muß man hinter ihnen eine politische Aussage vermuten. In diesem Zusammenhang bekäme auch der Fall Matsumoto eine neue Bedeutung“.

Noch eine Reihe weiterer Tatbestände ließ die Polizei am Montag politische Attentäter hinter den Anschlägen vermuten. Ein einzelner Amokläufer kam als Täter nicht in Frage, weil zu gleicher Zeit in fünf Zügen das giftige Sarin versteckt und freigesetzt wurde. Es war also eine Gruppe am Werk gewesen. Zudem hatten die Täter die Züge dreier verschiedener Linien gewählt, die eines gemeinsam haben: sie kreuzen sich im U-Bahnhof Kasumigaseki, der unmittelbar unter den Gebäuden des Wirtschafts- und Finanzministeriums liegt. Hier war auch Takahashi Vorsteher. Zumindest indirekt wurde so die Regierung zur Zielscheibe der Terroristen. Im Fernsehen äußerten deshalb Beamte der Ministerien ihre Angst vor weiteren Anschlägen. „Hätten sie das Gift doch besser gleich ins Finanzministerium gebracht“, scherzten dagegen am Abend zwei Angestellte auf dem Heimweg. So verband der Volksmund die Giftkatastrophe mit den jüngsten Finanzskandalen, die das Ministerium in öffentlichen Mißkredit gebracht hatten.

Üble Gerüche aus dem Sektendorf

Tatsächlich konnte jedoch von einer terroristischen Gefahr in Tokio zuletzt keine Rede mehr sein. Das letzte große Attentat geht auf den August 1974 zurück, als die „Bewaffnete ostasiatische antijapanische Front/Truppe Wolf“ eine Bombe vor einer Mitsubishi-Zentrale in der Nähe des Tokioter Hauptbahnhofs zündete und acht Menschen ermordete. Die Täter von damals aber sitzen heute hinter Gittern – einige von ihnen sind seit Jahren zum Tode verurteilt. „Linke Protestorganisationen wie in der 60er Jahren gibt es heute nicht mehr“, verneinte gestern der Schriftsteller Toru Miyoshi die Möglichkeit eines neuen Terrorismus von links.

Hingegen gibt es Hinweise, die die fanatische Sekte „Omu-Shinri“ – „Wahrheit des Papageis“ – mit dem Giftgas Sarin in Verbindung bringen. Bewohner des Dorfes Kamikuishiki in der Präfektur Yamanashi, die zwischen Tokio und Matsumoto liegt, beschwerten sich kurz nach den Vorfällen im Juni 1994 über üble Gerüche, die aus dem Sektendorf von Omu-Shinri hinüberwehten. Die Polizei fand damals vor Ort einen Organophosphorverbindungsstoff, der bei der Herstellung von Sarin entsteht. Der gleiche Stoff wurde zuvor auch in Matsumoto festgestellt. Seither beschuldigen sich Sektenanhänger und Dorfbewohner in Kamikuishiki gegenseitig des Umgangs mit dem gefährlichen Stoff.

Der amerikanische Chemiewaffenexperte Kyle Olson warf den japanischen Behörden in diesem Zusammenhang Sorglosigkeit vor: „Wenn in den USA ein Verdacht auf Sarin-Herstellung bestehen würde, wäre sofort die Armee zur Stelle, und CIA und FBI untersuchten den Fall.“ Olson warnte als erster davor, daß das bis heute ungeklärte Attentat in Matsumoto nur ein Test für spätere Anschläge gewesen sein könnte.

Solche Spitzfindigkeit lag den meisten Tokiotern auch gestern fern. Zu sehr bewegten sich die meisten Gedanken noch unmittelbar um die Ereignisse: „Es war eine Gruppe von Verrückten“, ahnt eine Studentin vor dem gesperrten Bahnhof der Hibiya-Linie. Doch sie selbst werde heute nacht gut schlafen, bei 30 Millionen Einwohnern im Umkreis seien ein paar Blindgänger schließlich nie auszuschließen. Ganz anders reagiert ein junges Pärchen in modischem Punk-Outfit: „Wir haben einfach Angst, etwas anderes ist gar nicht möglich.“

Solche Katastrophenangst ist vor allem den Tokioter Politikern vertraut, die sich gerade auf den Wahlkampf für die Bürgermeisterwahlen am 9. April vorbereiten. Seit dem Beben von Kobe im Januar wird die Tokioter Stadtpolitik fast ausschließlich von der Debatte um Vorsorgemaßnahmen für das nächste Beben in der Hauptstadt beherrscht. Dabei stammen viele Erdbebenängste aus Erfahrungen, wie sie auch die Tokioter U-Bahn- Fahrer prägen: Die Masse der Menschen und die Enge des Raumes begrenzen das individuelle Sicherheitsempfinden. Das Schreckliche an der gestrigen Katastrophe resultiert nicht zuletzt aus dem „Sardinenbüchsen-Effekt“ in der Tokioter U-Bahn, in der sich vor allem morgens um acht die Menschen wie Dosenfische aneinanderdrängen müssen. Sich in dieser Situation einem terroristischen Giftangriff ausgesetzt zu sehen: seit Montag müssen Millionen Menschen in Tokio mit dem Gedanken an diese Möglichkeit leben. Georg Blume, Tokio