Der letzte Treck in die Sackgasse

Verarmte Weiße lassen sich in Südafrikas einzigem Burenreservat nieder  ■ Aus Orania Henk Raijer

Der Steckbrief ist nicht zu übersehen. Jeder, der im einzigen Laden der Ortschaft einkaufen geht, schaut neugierig auf den Zettel: Herr M. G. Crous, so will es der Bürgermeister, gilt ab sofort als „verbode persoon“ in Orania. Der einstige Mitbürger ist nicht nur unerwünscht, sondern vogelfrei, denn die „Hauptstadt“ des ersten weißen Homelands Südafrikas ist Privatbesitz. Im „Kern vir die Afrikaaner Volkstaat“ am Ufer des Oranje greifen die neuen Gesetze Pretorias nur bedingt, und bei „Verrat an der Sache“ verstehen die Buren keinen Spaß. Die Wut seiner Stammesgenossen hat M.G. Crous auf sich gezogen, indem er gegen den heiligsten „Verfassungsgrundsatz“ verstieß, den der „Afrikaaner Volkstaat“ sich verpaßt hat: prinzipiell ohne Schwarze zurechtzukommen und selbst anzupacken. Crous jedoch beschäftigte bei den Renovierungsarbeiten an seinem Haus einen Elektriker, der die Arbeit – selbstverständlich in Südafrika – seinen schwarzen Angestellten überließ.

Friedlich dämmert es in der Hitze, das eingezäunte, etwa 150 Fertighäuschen zählende Kaff an der Grenze zwischen nördlicher Kapprovinz und Oranje Freistaat. Das Tor ist zwar offen, aber keiner der schwarzen Nachbarn würde es je wagen, das Gelände zu betreten. „Ons werk self“ heißt es in ungelenker Schrift auf dem Schild am Ortseingang: „Wir arbeiten selbst“. Was die „Voortrekker“ des Jahres 95 als etwas Besonderes zelebrieren, ist nach dem Scheitern der Apartheid nur die logische Folge der Entwicklung. „Wir arbeiten selbst“ ist Programm und Mahnung zugleich: Wer glaubt, in Orania eine ruhige Kugel schieben zu können, wie gewohnt die „Kaffer“ für sich schuften zu lassen, der ist, wie M. G. Crous, unerwünscht. Gleichzeitig ist das Schild eine Warnung an alle Andersfarbigen: Sie haben hier, im Gelobten Land am Rande der Großen Karoo, keinen Zutritt, sind schon von Natur aus „verbode persone“.

Darüber wacht, hoch oben auf dem Hügel, mit steinernem Blick Hendrik Verwoerd. Hinter dem Zaun, in Mandelas Südafrika, üben Schwarze und Weiße behutsam Versöhnung – in Orania hat man dem Architekten der Apartheid ein Denkmal gesetzt. Für Jan van der Weststede ist das in Ordnung. „Jede Nation muß sich selbst regieren, die getrennte Entwicklung von schwarzen Völkern und Europäern ist daher unabdingbar“, zitiert der ehemalige Farmer den 1966 ermordeten Regierungschef. „Und dieses Recht auf Selbstbestimmung fordern wir auch für unseren Volkstaat.“ Voller Inbrunst spricht er die Worte, schaut aber, so als müsse er sich vergewissern, zum Denkmal hinauf – und danach zum Fahnenmast, an dem die Kriegsflagge der alten Burenrepubliken Transvaal und Oranje Freistaat im warmen Sommerwind nach Richtung sucht.

Van der Weststede zitiert auch gern die Bibel, wenn er nicht gerade fürs Gemeinwohl rackert. Der Enddreißiger, wie alle Jungen und Männer hier in Shorts und knielangen Wollsocken, kümmert sich um die Freizeitanlagen im Ort, säubert das Schwimmbecken, fegt den Tennisplatz. Er läßt sich gerne ablenken und hält Reden – weil es, anders als auf der Farm, niemanden mehr zu kommandieren gibt. Nur selten sind mehr als zwanzig Kinder im Freibad, dessen monumentale Proportionen Architekten vom Schlage Albert Speers zur Ehre gereicht hätten. Blond und ausgesprochen höflich sind sie, wie ihre Eltern, die Traktoren und Mähdrescher durch die Straßen fahren, im Laden Gemüsekisten stapeln oder am Morgen ihr exklusives Gehege verlassen, um „in Mandelas Republik“ als Wanderarbeiter ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Am Abend kehren sie heim in ihr Idyll inmitten endloser gelber Kornfelder, Bewässerungsanlagen und Zypressen. Und danken dem lieben Herrgott, daß sie „den Kommunisten da draußen wieder entkommen sind“.

Wie alle genießt auch Jan van der Weststede die Beschaulichkeit Oranias – und die „Freiheit durch Sicherheit“, die die neue Wagenburg ihren Bewohnern bietet. Denn Angst ist zum Lebensgefühl vieler Weißer geworden. Selbst in ihren Häusern, die sie zu Knästen hochgerüstet haben, zehrte das Gefühl der Unsicherheit an den Nerven. „Endlich wieder bei offenen Fenstern und Türen zu schlafen, ohne die ständige Angst, von schwarzen Mörderbanden überfallen zu werden – das ist es, was der aufrechte Afrikaaner heute sucht und bei uns findet.“

Jan van der Weststede gehörte zu den Pionieren. Wie die meisten Zuzügler, die seit April 1991 nach Orania migrierten, stammt auch er aus der Provinz Transvaal, seit den Tagen der „Voortrekker“ (1835 bis 1838) Kernland der Buren. Aus Angst vor dem Untergang seines Volkes verkaufte er seinen gesamten Besitz und folgte dem Ruf Carel Boshoffs, jenes wildentschlossenen Kämpfers für einen exklusiv weißen Gottesstaat. Als van der Weststede seinen Treck begann, hatte Boshoffs „Afrikaaner Freedom Foundation am Ufer des wasserreichsten Flusses Südafrikas gerade eine Niederlassung gekauft, die Ende der sechziger Jahre eigens für die Arbeiten am P.-K.-Le- Roux-Damm errichtet worden war; ganze 1,2 Millionen Rand (1991 circa 720.000 Mark) kostete die Keimzelle des Afrikaaner Volkstaats.

Für 30.000 Rand wurden die Unterkünfte verkauft, auch heute noch fließt der Erlös in die Kasse der Stiftung zurück. Binnen drei Monaten, so die Auflage, sollte eine Familie ihre neuerworbene Bretterbude bewohnbar gemacht haben. Inzwischen ist Orania ein adrettes kleines Burenreservat, der nahe Fluß Garant für immergrüne Gärten. „Wir haben wirklich geschuftet damals, um aus Baracken Heime zu machen“, schwärmt Jan van der Weststede. Immer noch seien einige der Häuser, die vor 25 Jahren den Dammbauern als Unterkunft dienten, nicht ganz bezugsfertig. „Vereinzelt stehen noch Häuser leer“, räumt er ein, aber neue Eigentümer hätten sie schon. „Die Leute, die zu uns kommen wollen, haben Probleme, ihren Besitz in der Stadt loszuwerden. Und an Schwarze verkaufen – das kann man doch seinen alten Nachbarn nicht zumuten.“

Rund 400 „Afrikaaner“ haben bislang den Weg nach Orania gefunden – wenn auch viele von ihnen aus profaneren Gründen, als sich das Carel Boshoff, Spiritus rector der Bewegung und Schwiegersohn des Apartheid-Vaters Verwoerd, erhofft hatte. Gottesfürchtige Volkstaat-Ideologen sind hier in der Minderheit, längst haben sich Reiche und Rentner, die sich nicht länger gegen jene verbarrikadieren mochten, deren Neid und Haß sie selbst hervorriefen, durch ihren Umzug nach Orania die Freiheit zurückgekauft.

Von Aufbau, entschlossener Betriebsamkeit oder Prosperität ist in Orania wenig zu spüren. Zwar hat sich ein bescheidener Mittelstand etabliert, gibt es eine Bäckerei, ein Geschäft, eine Tankstelle, eine Werkstatt, eine Schneiderei, ein kleines Elektrizitätswerk. Zwar verfügt der Ort über eine eigene Schule, eine Kirche, ein Bürgermeisteramt, eine Klinik, eine Telefonzentrale und ein eigenes Denkmal. Doch produziert oder nach draußen verkauft wird nichts von Bedeutung – von einer Nachfrage nach Dienstleistungen mal ganz zu schweigen. Und so herrscht, gemessen am großen Ziel, einen Afrikaaner-Staat vom Oranje bis zum Atlantik, vom Kapland bis zur Kalahari zu errichten, erst mal nur dörfliche Idylle. Wenn auch eine trügerische.

Denn etwas abseits vom „Zentrum“, im Ortsteil „klein geluk“, leben die, die nicht aus freien Stükken kamen. Sie sind weder auf der Flucht vor der Rache des Schwarzen Kontinents noch auf der Suche nach dem Gelobten Land des Carel Boshoff. Sie haben weder Ideologie noch Arbeit, noch Geld. In jener Barackensiedlung am Rande der Halbwüste leben die ersten Opfer der Rückkehr Afrikas am Kap: einfache Leute, die daheim ihrer bescheidenen Privilegien verlustig gegangen sind, die durch die rasanten Steuererhöhungen im Zuge des Gleichstellungsprogramms der Regierung fällige Raten oder das für Weiße drastisch erhöhte Schulgeld nicht mehr zahlen konnten; Arbeitslose, die aus staatlichen Betrieben entlassen wurden, seit die automatische Jobreservierung für Weiße aufgehoben ist. Und weil Orania ihnen auch nichts zu bieten hat, haben sie ihr „kleines Glück“ ausgerechnet dort gefunden, wohin sie im Ancien régime nur ihre Sklaven verbannten: im Township.

In „klein geluk“ sind üppige Gärten eine Seltenheit. Hier und da drängen sich Kühlschrank und Waschmaschine unter einem Plastikvordach, so beengt sind die Behausungen, die die neuen Bewohner für ihre schwarzen Domestiken einst völlig ausreichend fanden. Anders als im Dorfkern findet das Leben, wie in jedem „normalen“ Township Südafrikas, in „klein geluk“ notgedrungen auf der Straße statt: Kinder, nicht wenige von ihnen in ärmlichen Klamotten, toben auf dem staubigen Schulhof herum, Jugendliche lehnen gelangweilt am Treppengeländer einer ausgemusterten Lagerhalle, rauchen und palavern. Ihre Eltern zeigen sich erst am Abend – sei es aus alter Gewohnheit, sei es aus Scham über das eigene Scheitern.

„Bei den meisten Leuten hier herrscht Not“, sagt Leonie van der Merwe, „kein Erspartes, keine Arbeit, keine Sozialhilfe.“ Seit einem halben Jahr lebt die Lehrerin aus Johannesburg mit ihrem Mann im Township. Zwangspensioniert wie der Gatte, der zur Zeit versucht, das baufällige Häuschen notdürftig zu flicken, engagiert sich die Fünfzigjährige heute an der Dorfschule von Orania. Sie bringt den Kleinsten Lesen und Schreiben bei und organisiert Brot, Butter und Milch bei benachbarten Bauern, damit die Kinder wenigstens einmal am Tag etwas Ordentliches zu essen bekommen.

„Das Problem ist, daß die meisten völlig falsche Erwartungen hatten, als sie nach Orania kamen“, meint van der Merwe. Zu Hause von höherqualifizierten Schwarzen verdrängt und sozial deklassiert, seien sie davon ausgegangen, wenigstens im eigenen Stammeskreis Zuflucht und eine neue Perspektive zu finden. Zu gerne bemühe Boshoffs Volkstaat- Bewegung immer wieder den Pionier- und Gemeinschaftsgeist der israelischen Kibbuzim, um Hoffnungen auf eine Zukunft zu wekken, die man nicht mit den Schwarzen teilen müsse. „Was uns selbst betrifft“, so ihr Mann, „wir sind weder religiös noch von der Ideologie realitätsferner Buren sonderlich begeistert. Wir wollten einfach nur weg aus der Stadt und in Frieden leben, nachdem uns die neue Regierung für überflüssig erklärt hatte.“ Das Ehepaar van der Merwe kann sich Orania leisten, für die Verlierer des neuen Südafrika jedoch hat sich ihr großer Treck als Sackgasse erwiesen. Aber nicht mal die Tatsache, daß sie heute eine Ahnung von den Lebensbedingungen der Schwarzen haben, die unterhalb des Existenzminimums leben, läßt jene „Voortrekker“, die nicht mehr mitkommen, an der Überlegenheit des eigenen Stammes zweifeln. Wenn am burischen Nationalfeiertag der Schlacht gegen die Zulus am Blood River (1838) gedacht wird, sind auch sie dabei. Stolz darauf, „Afrikaaner“ zu sein, versammeln sich alle unter dem Denkmal und danken ihrem Schöpfer, als Weißer geboren zu sein.