Das Land bringt dir das Fürchten bei

Die Jobvermittlungsstelle am Berliner Großmarkt im Wedding ist für viele Arbeitslose die letzte Hoffnung Ansonsten träumen sie von Banküberfällen, Lottogewinnen und vom schnellen Geld  ■ Von Peter Lerch

An Schulles Tätowierungen im Gesicht und auf den Händen kann man mühelos die Odyssee ablesen, die ihn durch alle möglichen Knäste geführt hat. „Ich kriege kein Arbeitslosengeld und kein Sozi“, schimpft der 32jährige. Er trägt Vollbart und versteckt seine schwarzen, verfilzten Haare unter einer Baseballmütze. Jeden Tag kommt er zur Arbeitsvermittlungsstelle in die Beusselstraße, um einen Job als Bauhelfer abzufassen. Ein Tag Arbeit würde ihm genügen, um vom Lohn eine Woche über die Runden zu kommen.

Auf den fünfzehn kackbraun gestrichenen Holzbänken sitzen acht übermüdete Gestalten und warten, daß sich das Fenster des Arbeitsvermittlers öffnet. Es ist Montag morgen, viertel nach vier. Seit 15 Minuten hat „Servic“, der vom Arbeitsamt betriebene Vermittlungsdienst für Tagelöhner, seine Wartehalle geöffnet. Doch die meisten der Männer haben trotz der klirrenden Kälte bereits Stunden vor der Tür der Jobvermittlungsstelle ausgeharrt, um als erste eine Zeitarbeit zu ergattern. Um einen Job bewerben kann sich hier im Prinzip jeder – wenn er die Lohnsteuerkarte und den Sozialversicherungsausweis dabei hat.

In in den letzten zwei Wochen ist Schulle umsonst so früh aufgestanden. Dabei benötigt er dringend Geld. Vom Sozialamt bekommt er nicht einen Pfennig, weil seine Eltern zuviel verdienen: „Meine Freundin und ich leben von dreihundert Mark im Monat.“

Er hat Frust auf die drei Albaner, die schon vor ihm da waren und just in diesem Augenblick einen Tagesjob als Bauhelfer mit einem Stundenlohn von 14 Mark zugeteilt bekommen. „Kuck dir die Penner an!“ flucht er. „Die greifen hier Sozi ab und arbeiten noch nebenbei. Und kein Mensch tut was dagegen.“ Vor kurzem hätte einer der „Jugos“ ein Bündel Hunderter aus der Tasche gezogen, bloß um ihn zu ärgern.

Wolfgang ist Schulles Kumpel. Er stammt aus dem Osten und hat mehrere Facharbeiterbriefe, unter anderem als Hochseefischer und Berufskraftfahrer. „Als sie hier letztens Bauhelferjobs vergeben haben, hieß es, ich sei nicht qualifiziert“, erzählt er. „Aber die Schmalzlocken, die noch nicht mal Deutsch sprechen, die gehen dann auf die Baustelle. Da fragt kein Mensch nach Qualifikation. Schuld daran ist dieses korrupte Schwein da vorne.“

Er zeigt auf die Milchglasscheibe, hinter der die Konturen des weißhaarigen Vermittlers zu sehen sind und streckt selbstbewußt seinen Bauch raus. „Der vergißt, daß er für uns da ist und nicht umgekehrt“, wütet Wolfgang. „Aber man darf ja hier nichts sagen. Neulich habe ich ihn mit ,du Pfeife‘ angehauen, da hat mich das Arschloch heimgeschickt. ,Hau ab‘, hat er gebrüllt, ,du kriegst heute keine Arbeit‘.“

Übergangslos greift er in seine Aktentasche und zieht eine Stullenbüchse heraus. Während er seine gelblichen Hauer in die Salamibrote vergräbt, wird sein Gesichtsausdruck versöhnlich. Er ist guter Dinge, heute doch noch eine Arbeit zu bekommen, denn mittlerweile ist es fünf Uhr, und es sind nur noch zwei Mann vor ihm an der Reihe. Ein Angebot allerdings hat Wolfgang an diesem Morgen bereits ausgeschlagen. Ganz früh war ein Schausteller bei der Vermittlungsstelle, der dringend Leute für den Aufbau seiner Geisterbahn suchte. „Alles mach' ich ja nun auch wieder nicht“, mampft Wolfgang vor sich hin. „Bei dem Job kannste nämlich anschließend deine Klamotten wegschmeißen, wegen all dem alten Schmierfett und so.“

Doch zunächst tut sich nichts. Unter dem Schild mit der Aufschrift „Hinweis für Leistungsempfänger! Bitte beachten Sie, daß Nebenverdienste der Leistungsstelle angezeigt werden müssen“ bewegt sich lediglich der weißhaarige Schädel des Jobvermittlers hinter der Glasscheibe. Als ich ihn fragen will, wie viele Jobs er täglich vergibt, flippt er aus. „Raus hier!“ brüllt er, „und unterlassen Sie die Interviews mit den Leuten.“

Inzwischen ist es halb sechs, und der 40jährige Albert gesellt sich zu seinen jobsuchenden Kumpels. „Mann, isses heute leer hier. Hab' ich ja vielleicht doch noch 'ne Chance, wa?“ Wolfgang und Schulle, die inzwischen über Banküberfälle, Lottogewinne und andere realistische Möglichkeiten nachsinnen, angemessen am kapitalistischen System zu partizipieren, unterbrechen ihre Ausführungen, um ihrem Kollegen Mut zu machen. „Klar Alter, heute ist noch 'n Job drin.“

Eine Weile drehen sich die Gespräche um die preiswerten Sahneheringe bei Aldi, dann werden wieder die „Bimbos“ und „Jugos“ als Schuldige für das Elend der Erwerbslosigkeit ausgemacht, bis die Debatte schließlich im guten Osten endet. „Drüben im Osten gab es keine Arbeitslosigkeit“, schwärmt Wolfgang. Sein Tonfall läßt keinen Zweifel daran, daß er lieber wieder im Arbeiter- und Bauernstaat leben würde. „Ach Scheiße, ich hab' 83 einen Ausreiseantrag gestellt“, gibt sich nun auch Schulle als ehemaliger DDR-Bürger zu erkennen. Wolfgang tut, als sei er deswegen ganz fertig: „Doch nicht etwa in den Westen? Mensch, das Land hier bringt dir das Fürchten bei! Die holen sich Leute rein und haben für die eigenen keine Arbeit ...“

Inzwischen ist es fast sechs Uhr. Die Milchglasscheibe wird aufgerissen und der Arbeitsvermittler winkt Schulle und Wolfgang zu sich. Bauhelferjob. Dreizehn Mark die Stunde. Der Auftraggeber kommt die beiden abholen. Während sie warten, schwärmen sie von früheren Jobs. Albert, der zuletzt gekommen ist, erinnert sich an einen Kerl, der sturzbetrunken in die Vermittlungsstelle getorkelt kam und einen Fahrer suchte. „Ich sollte den nach Hamburg fahren, weil er nicht mehr geradeaus fahren konnte. Draußen vor der Tür hatte er einen 600er Mercedes. Auf dem Rücksitz zwei junge Polinnen, die kein Wort Deutsch verstanden. Sicher ein Loddel oder so.“

Der Hamburger hat ihn auf der knapp dreistündigen Fahrt zweimal zum Essen eingeladen und ihm bei der Ankunft 500 Mark in die Hand gedrückt, damit Albert mit dem Taxi nach Berlin zurückfahren könne. „Aber so was passiert einem auch nicht jeden Tag“, seufzt er. Er schnorrt sich eine Zigarette von Wolfgang und macht sich auf einer der Holzbänke lang.

Während seine Kumpels zum Arbeitseinsatz abgeholt werden, nuckelt er an seiner bis zum Filter runtergebrannten Kippe und denkt noch einmal an den spendablen Hamburger. Und insgeheim hofft er, daß er wieder mal so einen guten Schnitt macht, jetzt, wo außer ihm keiner mehr in der Wartehalle sitzt.