Fremd in der eigenen Seele und im Körper

Mit fünfjähriger Verspätung erschien jetzt in Deutschland das amerikanische, psychoanalytische Standardwerk zu den traumatischen Erfahrungen von Kindern der Opfer, aber auch der Täter des Holocaust  ■ Von Thorsten Schmitz

„Wie macht man Kindern, kleinen und großen, klar“, wollte Elie Wiesel schon vor achtzehn Jahren wissen, „daß eine Gesellschaft den Verstand verlor und sich anschickte, ihre eigene Seele zu morden?“ Zwölf praktizierende Psychoanalytiker aus den USA und aus Deutschland haben den Versuch unternommen, diese Frage zu beantworten. Soviel steht für die Wissenschaftler – alle mit jahrzehntelanger Berufserfahrung – fest: Die traumatischen Erfahrungen, die Überlebende der nationalsozialistischen Hölle selbst fünfzig Jahre danach prägt, wurden weitervererbt. An die Kinder der Überlebenden, oft unbewußt, zuweilen aber auch mit voller Absicht. Die unfaßbare Welt der Konzentrationslager lebt in psychopathologischen Ausformungen in den Seelen vieler Kinder der Überlebenden fort. Und auch in den Köpfen der Kinder, deren Eltern Juden ermordet haben.

„Kinder der Opfer“ – Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust“, herausgegeben von Martin S. Bergmann, Milton E. Jucovy und Judith S. Kestenberg erschien zum erstenmal in den USA 1982, in einer stark erweiterten Fassung 1990. Unverständlich, warum dieses Buch erst jetzt einen deutschen Verleger gefunden hat. In den USA provozierte das Buch auch Empörung. Wie kann man nur die Chuzpe besitzen, mußte das Herausgeberkollektiv sich vorwerfen lassen, die Psychosen von Opfer- und Täter-Kindern in einem Buch zusammenzufassen und damit auch gegenüberzustellen? Tatsächlich aber relativieren die Autoren keineswegs die traumatischen Erfahrungen von Opfer- und Täter-Kindern. Sie erhellen sie.

Das Buch vermittelt einen tiefen Einblick in die Seelenstruktur von Kindern, die den Holocaust nicht physisch, aber psychisch miterlebt haben – und noch immer miterleben. Durch Attitüden und Erzählungen der Eltern. Die Kinder Überlebender zeigen Symptome, berichtet der Bostoner Psychoanalytiker James Herzog, als ob sie den Holocaust tatsächlich selbst erlebt hätten. Sie litten unter „gestörten Objektbeziehungen, geringem Selbstwertgefühl, negativer Identitätsbildung und narzißtischer Verwundbarkeit“. Martin Bergmann aus New York beobachtet in seiner Praxis immer wieder, daß Kinder von Überlebenden nicht in der Lage sind, ihr eigenes Leben zu führen. Sie fühlen sich verpflichtet, das Trauma, das ihren Eltern zugefügt wurde, „ungeschehen“ zu machen – oder aber sie rebellierten gegen diese Aufgabe, weil sie das Gefühl haben, daß dieses Trauma ihnen willkürlich auferlegt wurde.

Sehr viele Überlebende des Holocaust quälen sich ihr ganzes restliches Leben mit der Frage: „Warum lebe gerade ich noch?“ und entwickeln Schuldgefühle. Diese „Schuld“, davongekommen zu sein, führt nach Erfahrungen von Psychotherapeuten oft dazu, daß die Kinder dieser Menschen das Gefühl haben, sie müßten, stellvertretend für ihre ermordeten Verwandten, besonders erfolgreich ihr Leben meistern. So als existierte die Seele der Toten in ihnen weiter.

Gerade für die, die den Vernichtungslagern entkommen sind, haben Kinder eine unvergleichlich hohe und mehrfache Bedeutung. Leben weiterzugeben ist für sie ein Versuch, über den nationalsozialistischen Rassenwahn zu triumphieren, manchmal gar den Genozid ungeschehen zu machen.

Manche Eltern, berichten der Psychologe Martin Bergmann und der New Yorker Psychiater Milton Jucovy, verglichen ihre Söhne und Töchter mit Kindern, die sie im Holocaust verloren haben. Sie zwingen die „Wiedergeborenen“, zwei Leben zu leben: „Das eine in der Gegenwart und das andere im Zeittunnel einer ihnen aufgezwungenen Identifizierung mit den ermordeten Kindern.“

Viele überlebende Eltern schweigen über ihre Leidensgeschichte. Oft führt dies dazu, daß sich dann die Kinder aus den Holocaust-Erfahrungen von Vater und Mutter einen „Mythos schaffen, dem ihre eigenen Phantasien zugrunde liegen“. Die Wissenschaftler bezweifeln, daß es für Kinder von Überlebenden „überhaupt möglich ist, psychisch gesund zu bleiben, Liebesfähigkeit und Freude an Arbeit und Muße zu entwickeln“.

In ihrer jahrelangen Arbeit hat die ebenfalls an der amerikanischen Ostküste praktizierende Judith Kestenberg herausgefunden, daß die Hypothek von Auschwitz nicht immer lähmend auf das Leben der Kinder wirken muß. „Wenn es den Kindern Überlebender gelingt, die Aufgabe, den Holocaust wiederaufleben zu lassen und ungeschehen zu machen, kreativ zu lösen – durch künstlerische Tätigkeit, politische Aktivität, Erziehung und eigene Elternschaft –, wird ihr Leben bereichert; dies hilft ihnen, sich selbst als Teil der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu begreifen.“

Die Fallbeispiele – alle lesen sich wie Krankenakten – berichten allerdings ausschließlich von Kindern, die erst nach jahrelangen therapeutischen Sitzungen eine Distanz zur Vergangenheit ihrer Eltern entwickeln. Die Eltern von Marvin K. etwa, berichtet Kestenberg, hatten in Auschwitz alle Angehörigen verloren. In ihrem Sohn sahen sie die Hoffnung, „die Toten zu neuem Leben zu erwecken“. Tatsächlich aber kehrte sich diese Hoffnung um in eine „Personifizierung des Bösen“. Den Eltern, so Kestenberg, sei es vorgekommen, als sei Adolf Hitler selbst an Stelle der von ihm getöteten Kinder wiederauferstanden. Marvin K. wurde jeden Tag daran erinnert, daß er nicht annähernd „so perfekt“ sei wie die ermordeten Angehörigen. Dieser große psychische Druck führte zu einer enormen Entfremdung – und dazu, daß Marvin K. sich minderwertig vorkam. Eine zweijährige Analyse, die die Holocaust-Erfahrungen seiner Eltern mit einbezog, verschaffte ihm wieder Selbstsicherheit. Noch immer ist es unter Psychotherapeuten keine Selbstverständlichkeit, den Holocaust als Möglichkeit für Neurosen von Kindern in ihre Analyse zu integrieren.

Zur Psyche der Kinder von Tätern ist bislang wenig publiziert worden; am bekanntesten ist in Deutschland Peter Sichrovskys „Schuldig geboren“, das der Theatermacher George Tabori grell inszeniert hat. Die aktive Nazi-Vergangenheit von Eltern beeinflußt oft sogar das Liebesleben der Kinder. Der Psychoanalytiker Donald Coleman berichtet in dem Buch von Frieda T., die mit 26 Jahren die Behandlung aufnahm. Sie wußte, daß ihr Stiefvater SS-Offizier gewesen war. Während der Analyse fand sie, gemeinsam mit ihrem Therapeuten, außerdem heraus, daß andere Mitglieder ihrer Familie aktiv an der Vernichtung der Juden beteiligt waren. Frieda T. litt unter zunächst undefinierbarer Angst und Depression. Sie war zudem nicht fähig, über einen längeren Zeitraum mit einem Mann zusammenzusein. Schon bald nach dem Kennenlernen provozierte sie jedesmal Situationen, die es ihr ermöglichten, den Freund zu verlassen. Obwohl sie sich eine enge Beziehung zu einem Mann wünschte, erklärte sie ihrem Therapeuten triumphierend: „Ich breche Männern das Rückgrat.“ Sie verführte einen Mann und gestattete ihm, die Nacht bei ihr im Bett zu verbringen – allerdings ohne jede „Gratifikation“. Oder sie frustrierte ihn auf andere Art, so daß er impotent wurde. In ihrer Phantasie hatte sie Geschlechtsverkehr mit ihrem leiblichen Vater, der starb, als sie drei Jahre alt war. Frieda T. lehnte ihren SS-Stiefvater ab, nach ihrem leiblichen hatte sie Sehnsucht.

Nach den Erfahrungen der Ärztin Gertrud Hardtmann, die an der Technischen Universität in Berlin Sozialpädagogik und Sozialtherapie lehrt, weisen Kinder von Opfern und Tätern in psychopathologischer Hinsicht Ähnlichkeiten auf. In ihrer Berliner Praxis hat sie mehrere Kinder von Tätern behandelt, in deren Träumen regelmäßig Nazi-Uniformen und -Embleme auftauchten. Die Patienten erlebten sich selbst als „die Juden ihrer Eltern“, als Verfolgte und Gejagte. Genau wie die Kinder von Opfern litten sie an psychosomatischen Beschwerden, Schlafstörungen, Alpträumen. Es mangelte ihnen an Initiative, und sie waren unfähig, sich selbst und andere realistisch einzuschätzen.

„Sie fühlten sich wie Fremde im eigenen Haus“, berichtet Hardtmann, „fremd in ihrer Seele und ihrem Körper.“

„Kinder der Opfer – Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust“. Hg.: Martin S. Bergmann, Milton E. Jucovy, Judith S. Kestenberg. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1995, 425 S. 58 Mark