Eine Stadt, die niemandem gehört

Pakistans Hafenmetropole Karachi wird von Terroranschlägen, Bandenkriegen und Fehden rivalisierender Sekten erschüttert. Armut und der Zusammenbruch städtischer Dienstleistungen nähren das Klima der Gewalt  ■ Von Bernard Imhasly

Delhi (taz) – Nach dem Mord an zwei Angehörigen des amerikanischen Konsulats in Karachi am vergangenen Mittwoch gab es ganz unterschiedliche Vermutungen über die möglichen Hintermänner:

Sind sie bei fundamentalistischen Anhängern von Ramzi Yusef zu suchen, der am 7. Februar im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag gegen das World Trade Center in New York an die USA ausgeliefert worden war?

Sind es radikale Sunniten, die sich dafür rächen wollten, daß die Amerikaner sich besonders aktiv für die Freilassung der zwei Christen eingesetzt hatten, die letzten Monat in Lahore wegen Blasphemie zum Tod verurteilt worden waren?

Waren es Mitglieder der Drogenmafia, die auf die Razzien gegen Drogenhändler und ihre politischen Schutzherren reagieren, welche die Regierung unter Druck westlicher Staaten durchführt?

Ist das Attentat politisch motiviert – eine Reaktion auf Berichte, wonach die Clinton-Administration der pakistanischen Regierung zur Hand gehen will, die grassierende Kriminalität in Pakistans größter Industriestadt zu begegnen?

Oder ist es der Feind Indien, der das Chaos der Stadt im Süden des Landes ausnützt, um sich für die Unterstützung zu rächen, welche Pakistan den Unabhängigkeitsgruppen in Kaschmir gewährt?

Die Vielzahl möglicher Motive zeigt, welche Täter- und Terrorgruppen in Karachi vermutet werden können. Armut und der Zusammenbruch städtischer Dienstleistungen – Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Polizeidienste, Transport – treibt ihnen genügend Freiwillige in die Hände.

Karachi ist eine Stadt, sagte kürzlich ein Polizeioffizier, die niemandem gehört. Neunzig Prozent der Bevölkerung sind zugewandert, was sich an den Namen von Stadtbezirken ablesen läßt: Punjab Colony, Delhi Colony, Bihar Colony, Bangalore Town, Pathan Colony, Kashmir Colony oder Hazara Colony. Die zwölftgrößte Stadt der Welt hat keine gewählte Gemeindebehörde. Ihre vier rivalisierenden Verwaltungen liegen am Gängelband der Provinz- oder Zentralregierung, die dafür sorgen, daß der Reichtum der Handelsstadt abgeschöpft wird, statt in städtische Dienste investiert zu werden.

Die Bezeichnungen der Quartiere bilden nicht die einzige Form der Grenzziehung. Zunehmend sind es auch die Namen der Moscheen und die Farbe der Kleider, die in dieser – früher als weltstädtisch gepriesenen – Hafenmetropole zwischen Freund und Feind, Sunnit oder Schiit, unterscheiden.

Seitdem Militärherrscher Zia ul-Haq in den achtziger Jahren, bedrängt vom Ruf nach Demokratie, im Islamismus sein politisches Heil suchte, hat der Haß zwischen beiden Sekten unversöhnliche Formen angenommen. Den sunnitischen Mullahs, früher im toleranten Islam des Subkontinents oft als Dorftrottel verspottet, räumte der General in der Justiz und im Schulwesen Machtpositionen ein, die sie auch nach Einführung der Demokratie systematisch ausbauen konnten. Er war es, der die Abschlüsse der – inzwischen über 170.000 – Madrassen genannten Koranschulen als gleichwertig anerkannte. Und die Militärverwaltung drückte immer wieder ein Auge zu, wenn ein Mullah mitten auf öffentlichem Grund eine Moschee baute, dem dann nicht selten ein lukrativer Bazar und eine Schule eingefügt wurden.

Von den Machthabern geschützt und zum „Martyrium“ (sprich: Gewalt) durch den „Dschihad“ in Afghanistan und in Kaschmir zusätzlich legitimiert, haben die islamischen Parteien Dutzende von immer radikaleren Ablegern gefunden. An ihrer Spitze stehen oft charismatische und demagogische Anführer, die mit einer Politik der Denunziation jeden Gegner als „Nichtmuslim“ in akute Lebensgefahr bringen können. Dazu gehören nicht nur Christen oder Schiiten, sondern auch sunnitische Politiker – wie zum Beispiel der Chefminister der Provinz Punjab –, sollten sie es wagen, gegen ihre Anhänger vorzugehen.

Die demagogische Taktik gibt ihnen einen Einfluß, der weit über ihr effektives politisches Gewicht hinausgeht: keine der islamischen Parteien hat eine nennenswerte Vertretung in den Parlamenten. Eine parallele und vom Iran unterstützte Aufrüstung unter der schiitischen Minderheit – rund zwanzig Prozent der Bevölkerung – hat die alten theologischen Erzfeinde nach dem Ende des Afghanistan- Kriegs in eigentliche Fehdekriege verwickelt.

Mit Ausnahme des südlichen Punjab weist Karachi die größte Konzentration von Schiiten auf. Ein Überfluß an Waffen und Drogen gibt dieser Auseinandersetzung eine tödliche „Effizienz“. Von den über zweihundert Morden in diesem Jahr gehen die meisten auf Racheakte zwischen Anhängern dieser Gruppen zurück.

Der Kampf zwischen den islamischen Sekten hat zeitweise einen weiteren Konfliktherd überschattet, der aber mit unverminderter Glut weiterschwelt: der Bandenkrieg, den sich die „Mohajirs“ – die nach 1947 aus Indien eingewanderten Muslime – und einheimische ethnische Gruppen (Sindhis, Baluchen und Pathanen) liefern.

Die Mohajirs, vertreten durch das „Mohajir Qami Movement“ (MQM), hatten nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft Karachi zu ihrem Fluchtort gewählt. Es war wiederum Zia ul- Haq, der ihnen zur politischen Beherrschung der Stadt verhalf, als Stachel gegen die Politiker-Dynastie der Bhuttos, deren Machtzentrum die Provinz Sindh ist.

Die brutalen MQM-Methoden – 1991 hatte die Armee in einer Aufräumaktion reihenweise Folterkammern gefunden – hatten aber auch viele Mohajirs zu Dissidenten gemacht. Diese wurden dann in der gleichen Armee-Aktion von 1991 gegen die MQM angesetzt. Sie führte zur Flucht des MQM-Führers Altaf Hussain nach London und zu einem gnadenlosen Krieg zwischen den zwei Fraktionen, der inzwischen mehrere tausend Opfer gefunden hat.

Sowenig es die Regierung gewagt hat, gegen die bewaffneten Sektengruppierungen vorzugehen, so wenig ist sie bisher auch imstande gewesen, die von ihr angezettelte Fehde zwischen MQM (Altaf) und MQM (des in Pakistan verbliebenen Haqiqi) auszuräumen. Das hat zu dem bürgerkriegsähnlichen Chaos in Pakistans wichtigster Stadt geführt. Es droht auch die Stabilität der Regierung – und überhaupt der Demokratie – im Land zu gefährden.

Bei den Demonstrationen vor dem Gerichtsgebäude in Lahore, wo vor zwei Wochen über die Freilassung der beiden Christen verhandelt wurde, waren auch diese Slogans zu hören: „Zuerst Kabul, dann Islamabad – Taliban, Taliban“. Es ist kein Geheimnis, daß bei den afghanischen Taliban- „Studenten“, die heute um Kabul kämpfen, auch viele junge Pakistaner sind. Beide erhielten in den pakistanischen Madrassen dieselbe Ausbildung: einen strikten islamischen Verhaltenskodex, Waffentraining und Indoktrination für den Kampf gegen die weltweite antiislamische Verschwörung. Deren Drahtzieher: die USA.