Es wird alles gemacht, was Geld bringt

■ Interview mit dem Landesvorsitzenden des Bundes Deutscher Kriminalbeamter: Alle reden von der „Russen-Mafia“ in Berlin, gibt es die wirklich? / Verquickung von organisierter und Alltagskriminalität

taz: Ist Berlin zu einem Zentrum der organisierten Kriminalität geworden?

Holger Bernsee: Berlin nimmt eine besonders exponierte Stellung ein, denn hier gibt es etliche Indikatoren, die für die organisierte Kriminalität besonders ansprechend sind: die Infrastruktur, ein Rotlichtmilieu mit entsprechender Szene, ein hoher Ausländeranteil mit Ghettobildung, was ein relativ schnelles Abtauchen ermöglicht. Begünstigend kommt die örtliche Nähe zur polnischen Grenze hinzu sowie das große Wohlstandsgefälle. Bundesweit liegt Berlin bei der organisierten Kriminalität nach Hessen konsequent auf Platz zwei. Und die Tendenz ist steigend.

Was wissen Sie über die sogenannte Russen-Mafia?

Wir wissen, daß es im Bereich der GUS-Staaten zwischen 3.500 und 4.500 verschiedene Gruppierungen organisierter Art gibt, vom kleinen Grüppchen bis zur mächtigen Vereinigung, die auch international agiert. Von diesen Gruppierungen operieren etwa 300 auch auf deutschem Boden. In Berlin sind es etwa zehn, wobei das Spektrum auch Einzeltäter und Tätergeflechte umfaßt. Ich würde nicht sagen, daß es sich um so stark hierarchisch strukturierte Gruppierungen handelt wie bei der klassischen italienischen Mafia.

Es gibt in Berlin viele Exilrussen, die schon vor dem Mauerfall hier waren. Die haben sich besonders im Im- und Exporthandel, Ikonen beispielsweise, und im Spielhallenbereich angesiedelt. Viele kriminelle Machenschaften haben sich aber auch im Einflußbereich der russischen Streitkräfte abgespielt.

Woher kommen andere in Berlin agierende Gruppen?

Während rein statistisch gesehen jede dritte Straftat von einem nichtdeutschen Staatsbürger verübt wird, sind das im Bereich der organisierten Kriminalität wesentlich mehr. Dabei handelt es sich jedoch nicht um hier wohnende Ausländer, sondern um reisende Täter. Wir sprechen von importierter, ethnisch strukturierter Kriminalität.

Im Berliner Raum treten im besonderen Maße Angehörige aus Polen, dem ehemaligen Jugoslawien und anderen osteuropäischen Ländern in Erscheinung. Besonders bekannt sind die Tschetschenen, aber auch Gruppen aus Georgien und Aserbaidschan.

Welche Schwerpunkte haben denn die jeweiligen Gruppierungen?

Jugoslawische Gruppen agieren besonders im Bereich Eigentumskriminalität wie Einbrüche, Gruppen aus den GUS-Staaten in besonderem Maße bei Erpressungen zum Nachteil von eigenen Landsleuten. Polnische Gruppierungen sind bei Kfz-Verschiebungen auffällig, in letzter Zeit auch verstärkt in der Falschgeld- und Rauschgiftkriminalität.

Ein Merkmal organisierter Kriminalität ist, daß all das gemacht wird, was Geld bringt. Wenn jemand erpreßt wird und der nicht macht, was von ihm verlangt wird, kommt man automatisch in den Bereich der Bedrohung, Sachbeschädigung und schweren Körperverletzung. Das heißt, organisierte Kriminalität läßt sich von der Alltagskriminalität nicht mehr trennen. Das Problem ist, daß man das nicht erkennt.

Ist die Berliner Polizei mit der Beherrschung dieser Kriminalität überfordert?

Jein. Wir haben uns darauf eingestellt, gruppen- und personenbezogen zu ermitteln. Das heißt, ein Kommissariat kümmert sich beispielsweise speziell um Straftaten jugoslawischer Gruppierungen. Das ermöglicht uns einen gewissen Einblick. Aber Beweise zu bringen ist sehr schwierig. Dazu kommen Defizite im personellen und technischen Bereich. Heute läuft im Grunde jeder Kleinkriminelle mit einem Handtelefon durch die Gegend, im Landeskriminalamt sind die Dinger nach wie vor Mangelware. Beim nötigen Ausbau der Ermittlungskapazitäten der Kriminalpolizei hinken wir ganz, ganz weit hinterher. Mit den klassischen Ermittlungsmethoden haben wir keine Möglichkeiten. Es ist absolut illusorisch, verdeckte Ermittler in diesen Bereich einzuschleusen. Darüber hinaus ist in all den Gruppierungen eine starke Gewaltbereitschaft zu beobachten. Verräter werden grundsätzlich liquidiert. Da sind keine Aussagen zu erwarten.

Muß man damit rechnen, daß im Jahr 2000 in Berlin, ähnlich wie jüngst in Moskau, ein Fernsehdirektor erschossen wird?

Das ist absolut vorstellbar. Nehmen sie nur Klaus Speer. Er ist einer dieser honorigen Personen, die eine gewisse gesellschaftliche Stellung erreicht haben und sich mit Personen des öffentlichen Lebens wie Politikern umgeben. Da findet im Grunde die erste Verquickung zwischen Halbwelt, Rotlichtmilieu und damit auch organisierter Kriminalität statt.

Sie haben die von Innensenator Heckelmann in Teilen vorab veröffentlichte Kriminalitätsstatistik 1994 kritisiert, in der er einen Rückgang von etwa 15.000 Strafanzeigen verkündet. Warum?

Die Anzahl der Straftaten insgesamt ist in der Tat zurückgegangen. Ich will aber den Eindruck einer Entwarnung vermeiden, denn die registrierte Kriminalität in den letzten Jahren ist enorm expandiert, so daß der von der Innenverwaltung vermeldete Rückgang kaum eine Rolle spielt. Die nackten Zahlen sagen eigentlich gar nichts aus. Zehn Prozent aller in Berlin registrierten Straftaten sind Ladendiebstähle. Wir müssen aber viel mehr die Qualität der Kriminalität betrachten. Da stellen wir eine deutliche Zunahme bei Delikten fest, die der organisierten Kriminalität zuzuordnen sind. Interview: Barbara Bollwahn