Einladung zur Märchenhochzeit

Der Jesuitenschüler Heiner Geißler beendet die Liaison mit den Gelben und bestellt das schwarz-grüne Aufgebot / Aber die Benennung von netten Gemeinsamkeiten bleibt der Autor von „Gefährlicher Sieg“ schuldig  ■ Von Hans Monath

Harmoniesucht gehört nicht zu seinen Schwächen. Während andere beim Eintritt ins Pensionsalter gern ein versöhnliches Resümee ihres politischen Lebens ziehen, blickt Heiner Geißler in die Zukunft – und sorgt für Streit. Auf den Titelseiten tobten die Interpreten, als wenige Tage vor Geißlers 65. Geburtstag am vergangenen Freitag ein Vorabdruck aus seinem neuen Buch „Gefährlicher Sieg“ erschien und prompt Furore machte. Nicht nur die Liberalen attackierten den Autor, auch die eigene Partei distanzierte sich. Geschürt hatte den Streit ein Zitat, das sich in dieser Zuspitzung im vollständigen Text nirgends findet: „Die Grünen sind die besseren Liberalen.“

Die Vorstellung von Geißlers Buch in Bonn geriet denn gestern auch zur symbolträchtigen Veranstaltung: Mit Antje Vollmer pries die Spezialistin für die Sabotage von Parteidogmen aller Art den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU. Die Wahl der Bündnisgrünen zur Bundestagsvizepräsidentin mit den Stimmen der Union hatte nicht nur die ungeschickten Sozialdemokraten düpiert. Sie war ein Signal für die Entkrampfung des Verhältnisses von Schwarzen und Grünen – nicht anders als die Wahl des Grünen- Abgeordneten Manfred Such in die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) zur Überwachung der Geheimdienste.

Geißler selbst hat die alten Grenzen schon früher demonstrativ hinter sich gelassen. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl im Herbst 1994 bestritt er selbst eine spektakuläre Buchvorstellung: Damals lobte er Joschka Fischers Werk zur deutschen Außenpolitik über den grünen Klee.

Für die eigene Partei findet Geißler in seinem neuen Buch über das „Superwahljahr“ 1994 und die Konsequenzen des Wahlausgangs nur wenig gute Worte: Die CDU hat „Schwierigkeiten mit dem neuen Wertebewußtsein in unserer Gesellschaft“, weshalb ihr die jungen Wähler weglaufen. Vor allem der Personenkult um Helmut Kohl sowie die Bestätigungsrituale auf Parteitagen sind Geißler ein Greuel: „Viele wollen sich daran nicht mehr beteiligen und fühlen sich an andere Parteitage erinnert“, heißt es da anspielungsreich. Daß Meinungsfreude und Diskussionsbereitschaft in den eigenen Reihen als lästig gelten, macht ihm zu schaffen: „Konform. Uniform. Chloroform. Wo alle dasselbe denken, wird nicht mehr viel gedacht.“

Den Ausgang der Bundestagswahlen redet Geißler nirgends schön. Die Wahl, so konstatiert er mit Blick auf die Bundesratsmehrheit und den Zustand der Koalition, endete mit einem „glatten Patt“. Gefährlich ist der Sieg, „weil die Gefahr besteht, daß wegen der Schwäche der Koalition, begründet in der Labilität der Liberalen, Reformen nicht mehr angegangen werden“.

Die erste Aufregung der Liberalen war berechtigt, wie sich nach Lektüre des Buches nun zeigt. Der Christdemokrat vergleicht die FDP mit griechischen Philosophen aus der Schule der Kyniker, die über Selbstmord grübelten und sich töteten, indem sie den Atem anhielten oder aufhörten zu essen: „In diesem Zustand befindet sich zur Zeit die FDP.“

„Lebensgefahr durch programmatische Sklerose“ – so in etwa heißt die Diagnose, die der CDU- Politiker dem siechenden Partner ohne erkennbares Mitleid ausstellt. Geißler, der Verfechter der sozialen Marktwirtschaft, sieht in den Liberalen Anhänger einer Idee, die sich für ihn überlebt hat: des Kapitalismus. Die von Neo- und Wirtschaftsliberalen dominierte FDP verharre noch immer in dem Glauben, daß soziale Gerechtigkeit sich unmittelbar aus dem Markt ergebe und der Staat nicht verpflichtet sei, den Grundwert der Gleichheit zu garantieren. Gegen den Wirtschaftsliberalismus, das zeigt Kinkel-Kritiker Geißler am Beispiel des Außenministers, habe der Bürgerrechtsliberalismus keine Chance.

Die Labilität der Liberalen läßt Geißler auf die Suche nach neuen Partnern gehen. Da kommt die Farbe Grün ins Spiel. Mittel- und langfristig, so die unerhörte Botschaft, sei eine Koalition mit der einst als politikunfähig geschmähten Partei nicht auszuschließen. Trotz aller Differenzen ist für Geißler „der Reformbedarf vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels der eigentliche Motor der schwarz-grünen Diskussion“. Diese Diskussion bereitet den Teilnehmern eine Lust, die nur schwer zu erklären ist. Jeden kleinen Anlaß nehmen nicht nur Parteigeneräle, sondern Journalisten und politisch Interessierte, um sich die Köpfe heiß zu reden. Verglichen mit der Lebendigkeit dieser Debatte ist die sachliche und personelle Basis einer möglichen Zusammenarbeit allerdings denkbar dünn. Daran ändert auch Geißlers mühevolles Zusammenklauben angeblich gemeinsamer Ziele nichts, die von wertkonservativen Haltungen bis zur Hochschätzung der Subsidiarität reichen.

Widerstände thematisiert Geißler kaum: Dabei haben die Wähler von Union und Grünen strenge Vorstellungen davon, wo die Schamgrenze zwischen Kompromißbereitschaft und politischer Prostitution zum Zwecke des Machterhalts oder des Machtgewinns verläuft. Ein Großteil der Grün-Wähler definiert sich als links und erwartet entsprechende Abgrenzung, während unter den vielen älteren Unionsanhängern die Begeisterung für eine fortschrittliche Einwanderungspolitik oder die Aufgabe des Nationalstaats denkbar gering sein dürfte.

Ist nun der Geißler der neunziger Jahre, der erklärte Freund der multikulturellen Gesellschaft, der Antinationalist und Kritiker des politischen Stillstands, ein ganz anderer als jener CDU-Generalsekretär der Achtziger, der in demagogischer Weise einst die SPD als „fünfte Kolonne Moskaus“ schmähte und die Nachrüstungsdebatte anheizte, indem er die Pazifisten der Zwischenkriegszeit für die Existenz von Auschwitz verantwortlich machte?

Geißler ist sich treu geblieben. Es ist die alte Streitlust eines Mannes, der die scharfe Auseinandersetzung für die Essenz der Demokratie hält. Der ehemalige Jesuitenschüler ist auch jener Politprofi geblieben, der nicht in Auseinandersetzung hineinstolpert, sondern sie strategisch inszeniert, weil er sich davon Gewinn erhofft.

Tabubruch und Machtpolitik aber sind keine Gegensätze. Durchaus vorstellbar, daß trotz aller Dementis aus dem Adenauer- Haus auch ein Wolfgang Schäuble manchen Effekt von Geißlers Buch billigt, solange sich die Verunsicherung in den eigenen Reihen in Grenzen hält.

Mit der unvermeidlichen grünen Warnung, eine unattraktive Union wolle sich mit Schwarz- Grün, Menschenrechten und Umweltschutz ein bißchen aufpeppen, ist das Buch freilich nicht zu erledigen. Daß ein Spitzenmann der Union, und sei es ein Flügelmann, dieses Angebot unterbreitet, zeigt, wie weit sich Grüne und CDU verändert haben.

Noch hat Geißlers für seine Hochzeitseinladung kein Datum genannt. Trotzdem sollten sich die Grünen schon einmal mit einer Weisheit anfreunden, die ihr neuer Freund bei Oscar Wilde abgeschrieben hat: „Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen.“

Heiner Geißler: „Gefährlicher Sieg. Die Bundestagswahl 1994 und ihre Folgen“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995, 250 S. 36 Mark