■ Die deutschen und ihre Unrechtsstaaten: Entnazifizierung und Entstasifizierung
: Bewährte Muster

An Beispielen läßt sich etwas lernen. Als die Deutschen 1990 den zweiten Unrechtsstaat zu liquidieren hatten, blickten sie auf einen Präzedenzfall zurück, den sie schwermütig die „unbewältigte Vergangenheit“ nannten. Den Trägern der Hitler-Diktatur seien mit faulen Ausreden ihre Ämter und Bezüge zurückerstattet worden. Die Beamten, Juristen, Mediziner, Generäle, Polizisten hatten das Dritte Reich in Angst um Leib und Leben, als Partisanen im Apparat, andererseits in tiefer Unwissenheit verbracht. Das Schlimmste hatten sie verhindert, zumindest verhindern wollen, hilfsweise vollzogen, doch gutgläubig, unter strengem Befehl, wenn auch widerspenstig gehorchend, weil man sowieso nichts ändern konnte.

Wer nun hat die Tyrannei tagtäglich ausgeübt? Vernehmentlich Hitler, seine Minister, Gauleiter und Gestapochefs, denn diese wurden dienstentlassen. Dafür hatten bereits die Siegermächte gesorgt, die ihren Besatzungszonen ein radikales Säuberungsprogramm diktierten. Den Besiegten gefiel es nicht. Millionen von NSDAP-Genossen mußten sich durch Entnazifizierungsverfahren quälen, 200 Führungskräfte aus der Ministerialbürokratie der Wehrmacht und Industrie bestrafte der Nürnberger Militärgerichtshof nach Sonderrecht, 3.000 weitere Delinquenten wurden von westlichen Besatzungsgerichten abgeurteilt.

Die Deutschen protestierten gegen diese Kolonisation, zumal weil sie es besser verstünden. Man erkenne die Nazis genauer und entferne sie sachkundiger, fallgerechter. Dementsprechend überführte die westdeutsche Justiz bis 1955, in der Zeit der fehlenden und eingeschränkten Staatssouveränität, knapp 6.000 Täter und bis heute noch 500 dazu. Zwölf Prozent der Fälle sind Tötungsdelikte, die Überzahl betrifft Körperverletzung, Raub, Denunziation, Freiheitsberaubung. Die „Nichtbewältigung“ der Vergangenheit konfrontierte etwa 1.300 bis 9.000 Menschen mit ihrem Verhalten gegen Hitler. Angefangen vom Ausfüllen eines Fragebogens über Arrest, Zwangsarbeit, Geldbußen, vorübergehenden Amtsverlust, zeitigen und lebenslangen Freiheitsstrafen und dem Todesurteil. Die Bürger entnahmen daraus etwas anfänglich für sie Neues, Überraschendes: Sie hätten zwölf Jahre einem Verbrecherregime gedient. So distanzierte man sich gewohnheitsmäßig von der schrecklichen Zeit, log faustdick und wollte alles andere als ein Nazi sein oder gewesen sein ...

Schön. Die Nachkriegspolitiker hätten sich mit der Versicherung begnügt, erbten aber von den Alliierten das Säuberungswesen und konnten es schwer abstreifen, ohne den mißlichen Verdacht der Kumpanei zu erregen. Eigentlich maß man dem menschlichen Opportunismus mehr wandelnde Kraft zu als der Justiz. Die Nazis zeigten sich nach dem Zusammenbruch überaus vernünftig. Sie akzeptierten die neuen Spielregeln, vorausgesetzt, man stellte ihnen nicht weiter nach. Den Politikern gefiel dies Geschäft. Als Demokrat möchte man niemandem wehtun, dessen Wahlstimme vonnöten ist.

Als der DDR-Zusammenbruch erneut eine Armee von Staatskriminellen in die Bundesrepublik entließ, griff die politische Kaste instinktiv zu dem bewährten Muster. Nur der von den früheren Besatzern inspirierte Säuberungsgedanke fiel fort. Davon hatte man im Grunde nie etwas gehalten. Den SED-Funktionären widerfuhr weniger Harm als seinerzeit der NSDAP. Diese Mannschaften waren zu umfangreich, um diskriminiert zu werden. Tatkräftig veranlagt, konnte sie der Wiederaufbau gar nicht entbehren.

Die Staatsbediensteten, Juristen, Lehrer, Offiziere und Polizisten behielten ihr Amt. Allerdings will eine Hürde genommen sein, die Nachfrage nach der „Gestapo- SS-Stasi-Mitarbeit“. Das Werk der Entnazifizierungskammern tut nun die Gauck-Behörde und ist seither ebenso verhaßt. Ihr Zugriff wirkt dabei weitaus lascher. Sie erteilt Auskünfte über Akten, die allgemein als beweisuntauglich gelten. Der Ruch wurde von westdeutschen Politikern in Umlauf gesetzt, ganz gegen das Urteil der Zeitgeschichtsforschung. Doch um die 20jährige Intimdiplomatie mit dem SED-Regime zu vertuschen, müssen die Protokollnotizen verschwinden.

Weil in der Emphase der Vereinigung die Akten von Partei- und Sicherheitsapparat nicht beschlagnahmt, sondern offengelegt wurden, muß man ihre Aussagekraft annullieren: Die nämlichen Versuche der Nazis waren gescheitert, weil die Alliierten ihre Nürnberger Prozesse auf Aktenbeweise gestützt und die internationale Historiographie sich dem angeschlossen hatte. Mit der geistigen Aktenvernichtung ist die ohnedem winzige Verfolgergruppe halb gelähmt. Die Gerichte, allen voran die Arbeitsgerichte, sehen sich vergnügt vor unlöslichen Beweisproblemen. Von den Verbrechen, derer sie widerstrebend grundanständige, obrigkeitsfolgsame DDR-Bürger überführen sollen, zeugen nur noch Komplizen oder Opfer. Beide sind – wie schon die NS-Prozesse ergaben – höchst unzuverlässig. So schossen die Mauerschützen grundsätzlich daneben und trafen durch unglücklichen Zufall; die Spitzel spitzelten im Kirchenauftrag, um die Bespitzelten zu schützen; die Richter hielten für Rechtens, was Honecker in Paragraphen kleidete.

Die Staatsführer, in Nürnberg so fair wie rigoros abgeurteilt, treiben mit den deutschen Landgerichten und der Strafprozeßordnung Schabernack. Es gibt ein Dutzend gut gearbeiteter Schuldsprüche, die aber als Ausfluß eines anachronistischen Verfolgungseifers und westdeutscher Siegermentalität gelten. Anders als 1945 traut sich die Demokratie aber keinen Sieg mehr zu. Sie will die kriminellen Unterlagen nicht dem Rechtsgedanken unterwerfen. Es soll kein Präzedenzfall der Haftung staatsverbrecherischer Vollstrecker entstehen. Es sind verlorene Söhne, die in den Familienschoß zurückkehren, reuevoll und besserungshungrig. Und alle Welt staunt, daß die alte Terrorzentrale SED sich fünf Jahre nach dem Zusammenbruch in die stärkste Oppositionspartei auf ihrem Territorium verwandelt hat. Jörg Friedrich

Autor u.a. von: „Die kalte Amnestie“ und „Das Gesetz des Krieges, Das deutsche Heer in Rußland 1941 bis 1945“.