Das Quadrat ist da

■ Monographie zum Architekten Ungers im Artemis-Verlag erschienen

Etwas hoch zwei zu machen, so meint der Volksmund, heißt etwas im Negativen übertreiben. Wie ist das dann mit einer Ordnung hoch zwei, einer Architektur im Quadrat und ihrem Schöpfer Oswald Mathias Ungers? Zu Zeiten der heftigen Debatte um die architektonische Hauptstadtwerdung Berlins sind mit dieser Frage auf keinen Fall nur akademische Leser angesprochen. Besonders der interessierte Berliner, der sich vor Ort ein Bild von Ungers Architektur machen kann – angefangen von Ungers Wohnblock im Märkischen Viertel bis hin zur Friedrichstadtpassage –, wird daher den umfassenden Werkkatalog mit erläuternden Texten und Grundrissen zu schätzen wissen, den ihm Martin Kieren mit seiner Ungers-Monographie an die Hand gibt.

In seiner Einführung „Architektur als existentielles Problem, das Phänomen Oswald Mathias Ungers“ schildert Kieren knapp die Karriereentwicklung Ungers (vom früh gerühmten Architekten über den Theoretiker und einflußreichen Lehrer in den USA und an der TU Berlin, hin zum deutschen Stararchitekten), sowie die Grundlagen seines architektonischen Schaffens. Sie will den Leser veranlassen, bei Ungers selbst weiterzulesen, etwa zu seinem Konzept der autonomen Sprache der Architektur. Nach Ungers hat Architektur von Architektur zu sprechen – nicht von technischen Versorgungseinrichtungen, die Gebäude am Laufen halten, und nicht vom Zeitgeist, der das Gebäude als erweiterte Werbefläche oder vergrößerten TV-Monitor begreift, um einen beispielhaften Bogen von Renzo Piano/Richard Rogers Centre Pompidou zur Helmut Jahnschen Plaza-Architektur zu schlagen. Die äußere Erscheinung eines Gebäudes hat auch nicht für die zugrundeliegende Konstruktion zu sprechen. Diese hat nur der Stabilität des Gebäudes zu dienen. Interessanter ist Ungers' weitergehende Annahme, daß der Typus des Gebäudes überhaupt den Vorrang hat vor der Funktion und daß sich Funktionen dem Bautyp anpassen. Denkt man an die hochbegehrten Büros und Galerien in den Wohnhäusern der Gründerzeit oder das Wohnen in der Fabriketage, erkennt man in der Tat ein Umfunktionieren und lebensweltliches Umarbeiten vorhandener Bauten, das stutzig macht. Denn trotz oder gerade wegen der endlosen Debatte über Moderne, Postmoderne und postmoderne Dekonstruktion fällt auf, wie wenig Interesse die Architekten für Modernität im strikten Sinn zeigen. Sie bauen inadäquate Wohnungen für Familien, die es in der von ihnen angenommenen Form nicht mehr gibt, inadäquate Bürogebäude für computervernetzte Subunternehmer, die zu Hause bleiben und das Auto stehen lassen, auf das die Stadtplanung weiterhin in einem Maße Rücksicht nimmt, das nur als ideologisch gelten kann.

Wenn Häuser von Ungers als Bilder und Städte wie Metaphernlandschaften gelesen werden, geht es um Bedeutenderes, um Visionen einer „reinen Idee“ der Architektur. Leider führt Ungers' Hang zum akribischen Umsetzen seines Gedankengebäudes in konkrete Bauten häufiger zur puren Illustration als zu symbolischer Architektur. Das tangiert nicht notwendig die Ästhetik der Gebäude. Ob das Galeriehaus von Max Hetzler in Köln das ästhetisch gelungenere Haus ist als die Wohnbebauung an der Köthener/Bernburger Straße in Berlin, ist vielleicht gar nicht so leicht zu entscheiden. Aber der rigorose, kompromißlose Einsatz der geometrischen Figur des Quadrats ist in Köln nicht platte Bebilderung, weil das Arrangement mit der Asymmetrie des Baugrundes auf der Gebäudefassade zum Ausdruck kommt. Ein Konzept wurde verwirklicht (das Quadrat ist da), aber nicht überinszeniert.

Bewundernswert ist allerdings, wie Ungers seine Lochfassade immer radikaler purifiziert (kein Sockel, kein Dach, keine Traufe, kein Gesims) und sie tatsächlich in einen wichtigen Vorschlag einer absolut heutigen Architekturauffassung umformuliert. (Aber dann müssen die Fenster eben meist quadratisch sein und deshalb zu klein oder zu groß, und sie strahlen einen so gnadenlos weißen, mithin gnadenlos PVC-assoziierten Eindruck aus, daß man kaum hinschauen will. Soll damit das „innere Auge“, das nach Ungers die wahre Wahrheit sieht, herausgefordert werden?) Martin Kieren baut vor: „Groß genug ist diese Welt allemal, daß auch ein Quadrat in ihr Unrecht haben kann“, meint er auf feine ironische Weise. Seine respektvolle Argumentationsweise, sowohl gegenüber Oswald Mathias Ungers wie einem potentiell skeptischen Leser, und seine informationsreichen Erläuterungen sind eine ehrliche Einladung zur Diskussion. Insofern ist sein Ungers-Band nur scheinbar an jene ästhetische Gemeinde adressiert, die sich vom Titel der Reihe im Artemis-Verlag angezogen fühlt: „Große Architekten“. Brigitte Werneburg

Martin Kieren: Oswald Mathias Ungers. Artemis-Verlag 1994, 256 S., 60 DM.