Hausbesetzungen statt „Notverwaltung“?

■ Wegen politischer Fehlentscheidungen und Verwaltungsprobleme verfallen im ehemaligen Ost-Berlin immer mehr Wohnungen. Tausende Wohnungen stehen leer.

Seit mehreren Wochen hat Marianne G. eine Wohnung im Prenzlauer Berg sicher. Einziehen konnte sie freilich bis heute nicht. Die Angehörigen des verstorbenen Vormieters weigern sich, die Wohnung zu entrümpeln, und die Wohnungsbaugesellschaft Prenzlauer Berg (WiP) sieht sich außerstande, Gelder für den Gerichtsvollzieher vorzustrecken.

Marianne G. ist kein Einzelfall. Bei Grundstücken, bei denen die Alteigentümer einen Rückübertragungsanspruch gestellt haben, verkündete unlängst die WiP, könnten von nun an nur noch „Reparaturen zur Verkehrssicherung und zur Beseitigung erheblicher Bauschäden“ vorgenommen werden. Grund für den Reparaturstreik der Gesellschaft ist das bereits im September vergangenen Jahres verabschiedete „Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz“. In Häusern, auf denen ein Rückübertragungsanspruch ruht, dürfen die noch verwaltenden Wohnungsbaugesellschaften notwendige Instandsetzungsarbeiten nicht mehr aus den Mieten bestreiten. Die gehen auf ein Sperrkonto.

Aber auch anderweitig stehen keine Mittel zur Verfügung. Jedes dieser „restitutionsbefangenen“ Grundstücke, so steht es im Gesetz, muß „grundstücksbezogen“ abgerechnet werden. Im Klartext: Bei den unrentablen Häusern, betroffen sind 20.000 Wohnungen, unterbleiben Reparaturen. Freigewordene Wohnungen können nicht weitervermietet werden, weil das Geld für eine Grundinstandsetzung fehlt. Neu ist das Problem nicht. Bereits bevor das umstrittene Gesetz im letzten Jahr verabschiedet wurde, waren Bündnisgrüne und PDS einträchtig mit den Wohnungsbaugesellschaften dagegen Sturm gelaufen. Umsonst. Die Große Koalition in Berlin wollte wegen eines einzigen Paragraphen das Gesetz im Bundesrat nicht scheitern lassen und gab ihm seinen Segen.

Kritische Einwände erklärte der Berliner Bausenator Nagel zu „unverantwortlicher Panikmache von selbsternannten Experten, die den Durchblick verloren haben“. Trotzdem will Nagel eine Novellierung des Gesetzes. Der Passus über die „grundstücksbezogene Abrechnung“ soll gestrichen werden. Viele Chancen werden dieser Initiative nicht eingeräumt.

Unterdes tobt der Streit um Leerstand und Verfall. Der bündnisgrüne Baustadtrat im Prenzlauer Berg, Matthias Klipp, drohte mit Besetzungen, und die CDU forderte prompt seinen Rücktritt. Ebenso prompt kam die Reaktion von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS. Wenn der Senat versage, hieß es jetzt unisono, helfe nur noch politischer Druck, Besetzungen eingeschlossen.

Der Leerstand beschränkt sich keineswegs auf die „restitutionsbefangenen“ Häuser – hinzu kommen die „notverwalteten“ Grundstücke, bei denen die Rechtslage noch unklarer ist. Das sind ehemals staatlich verwaltete Grundstücke, bei denen sich die Alteigentümer noch nicht gemeldet haben. Die Folge: Die Wohnungsbaugesellschaften agieren ohne Verwaltungsautrag. Wird eine Wohnung vermietet, dann nur noch mit dem Vermerk, daß der Mietvertrag mit der Gesellschaft als Notverwalterin abgeschlossen wurde. Ob ein solcher Vertrag später vor Gericht Bestand hat, ist fraglich. Allein im Prenzlauer Berg befinden sich auf diese Weise 8.500 Wohnungen ohne Obhut, 18 notverwaltete Häuser stehen komplett leer.

Aber auch in anderen Ostberliner Bezirken wächst der Leerstand wieder in Richtung der Höchstmarke kurz nach der Wende. Allein in Berlin-Friedrichshain, vermutet die dortige Baustadträtin, stehe jede zehnte Wohnung wieder leer. 5.000 der leerstehenden Wohnungen befinden sich in „notverwalteten“ Häusern, in Pankow sind es 1.200. Inzwischen hat sich auch der Rat der Berliner Bezirksbürgermeister des Problems angenommen und den Senat aufgefordert, die Rechtsvorschriften umgehend zu ändern, um die Möglichkeit treuhänderischer Verwaltung mit allen Rechten und Pflichten zu schaffen.

Noch hat Marianne G. Hoffnung, bald ihre neue Wohnung beziehen zu können, aber anderenfalls würde sie eine Besetzung nicht ablehnen. In Berlin gibt es 150.000 Wohnungssuchende. Weit über 10.000 Wohnungen stehen in den Ostbezirken leer, Tendenz steigend. „Die Politiker“, sagt Marianne G., „reagieren doch nur, wenn sie ordentlich Dampf bekommen.“ Die Drohungen der Grünen und der PDS, Besetzungen gegen den neuen Wohnungsnotstand zu unterstützen, kommt nicht von ungefähr: Im Berliner Wahlherbst wird es fünf Jahre her sein, daß nach der Räumung der Mainzer Straße eine Koalition an der Wohnungspolitik in die Brüche ging. Die Wohnungen in einem Haus dieser Straße sind trotz Fördergeldern zu Eigentumswohnungen umgewandelt worden, in einem andern Haus betragen die Mieten 30 Mark pro Quadratmeter. Die Wohnungspolitik wird auch im nächsten Wahlkampf eine Rolle spielen.