Einer, der Glück hatte

■ Ein Film über den Diplomaten und Zeitzeugen Stéphane Hessel

Der Diplomat fährt mit der Pariser Métro. Er läuft durch ein afrikanisches Dorf und erklärt Schulkindern die Notwendigkeit sauberen Trinkwassers. Der Diplomat hört sich mit freundlicher Skepsis die wortreichen Beteuerungen des Präsidenten von Burkina Faso an, der sich über die verstärkte Gleichberechtigung der Frauen in seinem Land ergeht.

Der Diplomat ist kein typischer Fall. Er heißt Stéphane Hessel und ist der Sohn des Schriftstellers Franz Hessel; die „menage à trois“ seiner Eltern und eines Pariser Kunstmaklers inspirierte François Truffaut zu seinem Film „Jules et Jim“.

Antje Starosts Dokumentarfilm aber ist ganz dem Sohn gewidmet, ein warmherziges, genaues Porträt eines Zeugen dieses Jahrhunderts. 1917 in Berlin geboren, mit den Eltern nach Frankreich gegangen, arbeitet Stéphane Hessel für de Gaulles „Freies Frankreich“ und wird einen Monat vor der Befreiung von Paris 1944 durch die Gestapo verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Der Film zeigt das verfallene Lager, den greisen Stéphane Hessel ganz allein auf den großen, leeren Plätzen. Und doch, eher beiläufig erzählt er seine Geschichte, die Flucht, die er einem Identitätswechsel mit einem an Typhus gestorbenen Mithäftling verdankt. „Manchmal denke ich, ich hatte zuviel Glück.“

Hessel wird Diplomat, man sieht ihn vor dem Schild „France“ bei zahlreichen Konferenzen, von ihm selbst kommentiert. Hessel hat zuviel erlebt, um sich den Luxus des Zynismus zu gönnen. Entwicklungspolitik und Menschenrechte sind seine Domänen. Unaufdringlich und ohne jede Grau- in-Grau-Volkspädagogik handelt dieser Film auch von den Möglichkeiten unserer Zeit, jenseits der bequemen Antinomie Geist versus Macht. Hessel ist kein schmallippiger Geheimnisträger, sondern einer, für den kleine Schritte notwendig sind, um ein großes Ziel zu erreichen: „Gibt es einen Universalismus der Menschenrechte?“ Und dann lächelt er, ganz das Gegenteil eines Eiferers: „Sehen Sie, überall auf der Welt wollen Menschen frei leben, ohne Folter und Unterdrückung.“

Schnitt. Hessel rezitiert Shakespeare, Goethe, Hölderlin, singt ein französisches Chanson, tanzt inmitten junger Leute, die ein Theaterstück proben. Der Kamera von Antje Starost gelang das Kunststück, nie in eine hagiographische Manier zu verfallen und doch ein beeindruckendes Beispiel menschlicher Integrität zu zeigen. Mit schnellen Schritten läuft der alte Mann über den Potsdamer Platz, die Mauer ist weg, vor dem Zoologischen Garten fällt ihm ein Berliner Kinderreim ein, den ihn seine Mutter gelehrt hatte. Berlinert mit lachenden Augen drauflos. Augenblicke, in denen die Rechtfertigungsargumente für Nichtstun verblassen: Nicht alles ist Simulation.

Der Film nimmt die Erfahrungen einer Biographie ernst und zeigt nebenbei, daß ein lebenslanges Engagement für die Menschenrechte nicht bitter und biestig macht: Es stiehlt die Zeit für Resignation und schafft eine Melancholie, die sich nie mit den Zuständen, wie sie sind, abfinden wird. Eine Jahrhunderterfahrung, ein sehenswerter Film. Marko Martin

„Der Diplomat. Stéphane Hessel“. Ein Film von Antje Starost, 16 mm, Farbe, 80 Minuten, Antje Starost Filmproduktion, Bundesrepublik Deutschland 1994