Thermodynamik der Triebe

Ausbruch aus der friedlichen Sexualität, unheimliche Rückkehr des Animalischen. Über Hans Richard Brittnachers „Ästhetik des Horrors“  ■ Von Niels Werber

Werwölfe schänden nächtlich bereitwillige junge Damen; der blutige Verkehr mit Vampiren fasziniert Opfer beiderlei Geschlechts; ein künstlich erschaffenes Monster raubt der leicht bekleideten Braut das Herz. All dies ist Film. In „Dracula“, „Wolf“ oder „Interview with a vampire“, um nur die jüngsten Beispiele zu nennen, kann auch der unschuldigste Zuschauer die Allianz des Begehrens mit dem Bösen nicht übersehen. Die Möglichkeit lustvoller Identifikation mit dem potenten Täter oder dem genießenden Opfer machen die stete Attraktivität des filmischen Horrors aus. Einer populären Kunstform wie dem Kino mag man die Allianz mit dem Horror nachsehen. Die Literatur, die schon seit 1915 („Golem“) so erfolgreich verfilmt worden ist, hat es da schwerer. Während der Hinweis auf hohe Besucherzahlen und Milliardengewinne die filmische Bearbeitung des Phantastischen allemal rechtfertigt, nötigt gerade die Popularität des Genres die Literaturwissenschaft, die Horrorliteratur der Trivialität zu bezichtigen. Die effektive Kanonisierung der Klassik habe, so der Berliner Germanist Hans Richard Brittnacher in seiner neuen Studie, dazu geführt, daß der von der offiziösen Ästhetik abgesegnete Standard „nur bei der Strafe der Ausweisung aus dem Pantheon literarischer Größe unterboten werden durfte“. Die sich um den guten Geschmack wenig scherende Phantastik werde seit beinahe 200 Jahren marginalisiert. Brittnachers „Ästhetik des Horrors“ will dieses „Stück verdrängter und abgewerteter Literaturgeschichte“ schreiben und das Genre rehabilitieren.

Sein berühmter Vorläufer, der französische Semiotiker Tzvetan Todorov, hielt den doute fantastique für das Kennzeichen der Gattung: Leser und Held zweifeln, ob ein Ereignis einer „natürlichen oder übernatürlichen Erklärung“ bedürfe. Diese Definition schließe aber jene Texte aus, die eindeutig für die „Dominanz einer jenseitigen Ordnung“ optieren, und mache aus dem handgreiflichen Entsetzen, das uns das Blut stocken und die Haare zu Berge stehen läßt, einen Entscheidungskonflikt. „Das Anstößige, Erregende, Häßliche und Schamlose“ habe keinen Platz gefunden.

Wenn Theorien nicht weiterhelfen, läßt man das Material selbst sprechen. Beredt zu Wort kommen läßt Brittnacher Gespenster, Vampire, Monstren, Teufel und künstliche Menschen. Nach einer umfassenden Sichtung der europäisch-amerikanischen Literatur wird mit Linnéschem Fleiß eine Taxonomie des Horrors erstellt, der kaum eine „ikonographische Vergegenwärtigung“ der „Hostilität“ entgeht, wie der Autor sein literarisches Personal in bisweilen gespreizter Terminologie bezeichnet. Vom Alraun bis zum Werwolf wird die Vielfalt innerhalb der Spezies erkundet, um dann die Genese der Gattungen zu untersuchen. Diese Motivgeschichte läßt sich genießen wie der schön illustrierte Atlas einer exotischen Fauna.

Neben diese Liebe zum Detail tritt allerdings eine eher schlichte Deutung des Stoffs. „Je unbedingter sich die Literatur in den Dienst von Aufklärung, Vernunft und Schönheit stellte, desto resoluter drängten auch das Düstere, das Irrationale und das Häßliche zur Darstellung.“ Brittnachers Analyse ist der Figur der „Wiederkehr des Verdrängten“ verpflichtet. Die vom fortschrittsgläubigen Denken geleugneten Krisenerfahrungen der Moderne: „Tod, Wahnsinn, Einsamkeit, Entsetzen und Ich- Zerfall“, so Brittnacher, kommen in der Horrorliteratur zum Ausdruck. Auf die „Erschütterung der metaphysischen Tradition“ um 1800 folge ein Zeitalter nicht nur der Vernunft, sondern auch des Horrors als sein unheimlicher Doppelgänger. „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“, so wird Novalis zitiert. Der Horror entsteht in einer Scherenbewegung von Irreligiosität und Aufklärung. Dies ist allerdings keine Erklärung, sondern eine Beschreibung. „Gerade im Augenblick, wo der Positivismus mit vollen Backen bläst, erwacht der Mystizismus“, stellt Durtal in Joris-Karl Huysmans' „Là-bas“ (1891) fest. Und bereits 1856 beobachtet Théophile Gautier im „Avatar“ den Boom der Geheimwissenschaften in einem „ganz an stoffliche Interessen hingegebenen Europa“. Diese literarischen Selbstbeschreibungen der phantastischen Literatur bedürften erst einer Begründung. Daß der Materialismus notwendig den Mystizismus gebiert, ist Trivialsoziologie. Eine Ästhetik des Horrors hätte auf der Suche nach Gründen die poetischen Interessen ernster nehmen müssen, die gerade Autoren der Décadence am Okkulten oder Satanischen genommen haben.

Das Licht der Vernunft wirft – noch eine Dialektik der Aufklärung – einen Schlagschatten, in dem die Phantastik haust. Die Versklavung des Menschen durch den Vampir wird von Brittnacher als Umkehr des Herrschaftsverhältnisses des Menschen über die Natur verstanden, die „den Menschen zu dem machen [wird], wozu wir das Pferd und den Ochsen gemacht haben: zu einer Sache“. Die Verdinglichung der Natur und des Menschen erhält in Frankensteins Geschöpfen ein erschreckendes Abziehbild: „Diese wiederkehrende Natur, im Bilde eines Aufstandes der Marionetten, Androiden und Gummibälge, trägt auf ihrem Antlitz die Strapazen der Gefangenschaft und des Ausbruchs aus der zivilisatorischen Einkerkerung.“ Die Zivilisation hat die Natur unterworfen und die Triebe eingesperrt, nimmt Brittnacher mit Norbert Elias an. Die phantastische Literatur fungiert in diesem thermodynamischen Modell als Ventil, das den psychosozialen Druck permanenter Affektkontrolle abläßt. Die Wiederkehr des Verdrängten erscheint so vor allem als Ausbruch einer pazifizierten Sexualität. Bei den langen Fangzähnen des Vampirs handelt es sich „um das vergewaltigende männliche Organ oder um das verschlingende weibliche Genital“. Mit dem sicheren Blick eines Krafft-Ebing wird die polymorph perverse Sexualität der Vampire ausgebreitet. Da ist die Rede von Masochismus, (zuweilen animalisch getöntem) Sadismus, Vergewaltigung, Algolagnie, Unterwerfungsphantasien, lesbischer Liebe, suizidalem Masochismus, erzwungener Fellatio, sadistischem Busenfetischismus, Nekrosadismus und Nekrophagie. In dieser zweifellos beeindruckenden „erotischen Vielfalt“ entdeckt Brittnacher einen „Affront bürgerlicher Sexualität in jeder Hinsicht. Anders als der an zügiger Befriedigung orientierte Sexualakt des Bürgers ist die erotische Vereinigung mit dem Vampir zudem von lustvoll quälender Dauer.“ Sein Hinweis auf das Fortleben des adeligen Verführers der Romane Samuel Richardsons in der Gestalt des Vampirs ist da gewiß fruchtbarer als die „Dialektik“ puritanischer Bürgerlichkeit und vampirischer Perversion. Denn aus der Opposition zum bürgerlichen Pflichtverkehr läßt sich die Sexualpathologie der Vampire nicht erklären, da diese Praktiken, siehe de Sade oder Gilles de Rais, auch vor der Entstehung des Bürgertums schon verboten und verfolgt wurden. Die derart vom Sex faszinierte Studie entlarvt die unsichtbaren „protoplasmatischen Monstren H.P. Lovecrafts unschwer als spermatische Allmachtsgebilde“, obschon man mit Huysmans eher an leistungsfähige Mikroskope denken könnte, die gefährliche im „Äther“ wimmelnde „Wesen“ sichbar machten.

Brittnachers „Plädoyer für die Phantastik“ ist trotz allem sympathisch, die Analyse der diskursiven „Frontbegradigung um 1800“, in deren Verlauf das „Unterhaltsame als belanglos denunziert“ und der Horror mit elitärem Gestus im Trivialen eingesperrt wird, überzeugend. Das Lob des Genres als einer „fast immer kurzweiligen Erzählkunst“ entgeht der Versuchung, verkrampft die Pop-Kultur des Horrors in kanonisierbare Hochliteratur umzumünzen. Die überzeugendste Lanze für die Lust am Unheimlichen bricht Brittnacher freilich nicht theoretisch, sondern rhetorisch: mit seiner unterhaltsamen Präsentation des Materials.

Hans Richard Brittnacher: „Ästhetik des Horrors“, Suhrkamp Taschenbuch, 359 S., 19,80 DM