Doktor Courage lebt! Von Thorsten Schmitz

Simone von Lindow ist eine von diesen tapferen Ärztinnen, die alles besser machen wollen als ihre KollegInnen. Sie führt nun schon seit zwanzig Jahren eine Praxis im besseren Teil Berlins. Bei ihr stapeln sich die Patienten, weil sie einfach nicht nein sagen kann. Und irgendwie muß ja auch das knallrote Porsche-Cabriolet finanziert werden – und der einzige Sohn, der noch nicht mal weiß, „wie man Arbeit schreibt“, so die Mutter.

Sie wuselt 14 Stunden am Tag durch die 14 Charlottenburger Praxisräume, und wenn, wie vorgestern geschehen, ein kleiner Steppke der Grippe wegen auf den Teppichboden kotzt, fällt ihr nur „Ach, wie schade!“ ein.

Wenn sie partout nicht mehr kann, nimmt sie garantiert keinen Urlaub, weil sie sich den immer aufspart für Hilfseinsätze in den Krisengebieten dieser Welt. Und wenn Simone von Lindow doch mal zu Hause bleibt, wispern ihre minderjährigen Sprechstundenhilfen, „die Frau Doktor“ sei krank. „Was mit Magen und Darm“ heißt es dann tendenziell treffend, was soviel bedeutet wie: zuviel zu fett gegessen. Denn das ist ihre Leidenschaft: Ente mit Bratkartoffeln. Aber das soll niemand wissen.

Die Praxis ist montags bis samstags Anlaufstelle für alle sozialen Schichten: für den türkischen Metzgergesellen, der vor Prüfungsangst „nicht mehr kann“, für die Boutiquenbesitzerin, die vor lauter Minus in der Kasse Magenkrämpfe geortet haben will, für die Mutter mit den acht Kids, die das katastrophale Kinderchaos vom Schlafen abhält, für den Junkie vom Kottbusser Tor, der hicksend schon im Flur um sein Methadon bittet – und doch eigentlich nur wissen will: „Frau von Lindow, vertrauen Sie mir, wie auch ich Ihnen vertraue?“ Weil die Frau Doktor, deren Alter zu den letzten ungelösten Rätseln dieser Welt gehört, von ihren Standeskollegen nur wenig bis gar nichts hält, tut sie so, als verfüge sie über ein unerschöpfliches Zeitkontingent. Mit jedem und jeder hält sie vertrauliche Plauschs über Kochrezepte und Köter. Sie selbst besitzt ein etwa handgroßes Wollknäuel, das entweder apathisch zu ihren Füßen liegt oder aktiv näßt.

Dr. Lindow läßt sich auch dann nicht beirren, wenn sich im Wartezimmer die Patienten zu zweit einen Stuhl teilen müssen. Das hat inzwischen dazu geführt, daß langjährige Kunden ihre zuckersüße Zutraulichkeit mißbrauchen und schon an der Sprechstundentheke versuchen, bevorzugt behandelt zu werden, indem sie, wie zufällig, Petit fours liegenlassen oder Yucca- Palmen vom Aldi nebenan, während die Sprechstundenhilfe sich mit den neuen AOK-Chipcards abmüht. Wer das System durchschaut hat, verkürzt die Wartezeiten so automatisch auf eine lächerliche Dreiviertelstunde.

In den Praxisräumen hat sich der manifeste Muff von wenig gelüfteten Wohnzimmern festgefressen. Diese Frau Doktor legt eben allergrößten Wert auf weltbewegendere Dinge als Air-condition. Zum Beispiel darauf, daß ihr Team sich „behaglich“ fühlt. Nur so läßt sich erklären, daß sie die Fragen ihrer Angestellten nicht aus der Fassung bringen. Als Simone von Lindow ankündigte, sie werde für zwei Wochen nach Goma fliegen, wollte eine ihrer sechs Verbandsassistentinnen wissen: „Haben Sie Vollpension gebucht?“ Frau Doktor fuhr ins zairische Flüchtlingslager – ganz und gar ohne Pension.