Zuwenig Anklage – zuwenig Prozeß

Der Prozeß gegen den DDR-Unterhändler Wolfgang Vogel wegen Erpressung muß möglicherweise noch einmal ganz von vorne beginnen / Kammergericht monierte Begrenzung der Anklage  ■ Von Agathe Januar

Berlin (taz) – Alles noch einmal? Im Prozeß gegen den ehemaligen DDR-Unterhändler Wolfgang Vogel wird das Berliner Landgericht vermutlich kommende Woche darüber entscheiden, ob das Verfahren von vorne aufgerollt werden muß. Das Berliner Kammergericht hat Anfang Februar als Oberinstanz entschieden, daß sich der 69jährige nicht nur für zwanzig Erpressungsfälle, sondern für rund fünfzig zu verantworten hat.

Auch die mutmaßliche Mittäterschaft des Ex-Stasi-Generalmajors Gerhard Niebling, muß verhandelt werden – entweder getrennt oder in einem gemeinsamen Vefahren mit Vogel. Damit hat sich vor der 6. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts unter dem Vorsitz von Richter Holzinger die Staatsanwaltschaft durchgesetzt. Diese hatte von Anfang an ein umfassendes Verfahren nicht nur gegen Vogel, sondern auch gegen Niebling angestrebt. Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher hatte sich folgerichtig gegen den Eröffnungsbeschluß des Landgerichts zur Wehr gesetzt, das nur 21 Fälle zur Verhandlung zugelassen hatte.

Wolfgang Vogel wird vorgeworfen, mit erpresserischen Methoden DDR-Bürgern ihre Immobilien im Austausch gegen die Ausreise in den Westen abgepreßt zu haben. Wolfgang Vogel, dessen Karriere mit dem Austausch des über der Sowjetunion abgeschossenen U-2- Piloten Garry Powers auf der Glienicker Brücke 1962 begonnen hatte, war der wichtigste Vermittler zwischen Ost und West. Geachtet von Ludwig Erhard bis Helmut Kohl hat er in 35 Arbeitsjahren Gefangenenfreikäufe und die Ausreise rund einer Viertelmillion DDR-Bürger organisiert – ganz zu schweigen von den rund hundert ausgetauschten Spionen.Im laufenden Prozeß sollen nach dem Willen der Staatsanwaltschaft nur noch die Anklagepunkte Untreue und Meineid zu Ende verhandelt werden. Der neue Prozeß könnte dann im Mai beginnen.

Für Rechtsanwalt Vogel ist ein derartiges Vorgehen eine ungeheure Belastung. Schon für die zehn bislang verhandelten Erpressungsfälle hat das Gericht vier Monate gebraucht. Für die angestrebten fünfzig Fällen müßten entsprechend etwa zwanzig Monate terminiert werden. Möglicherweise auch mehr, wenn Ex-Stasi-General Gerhard Niebling mit auf der Anklagebank sitzt. Vogels Verteidiger Wolfgang Ziegler warf dem Kammergericht gestern vor, sich von politischen Erwägungen leiten zu lassen. Juristisch sei die Entscheidung unhaltbar.

Die Anklage grenze an „Geschichtsfälschung und Verleumdung“. Der Eindruck werde erweckt, als ob ein „kleiner Klüngel“ gewichtiger Genossen ausreisewilligen DDR-Bürgern die Häuser abgepreßt hat. Mit „juristischer Magerkost“ werde Geschichte verfälscht, der Angeklagte mit herbeigezwungenen Argumenten verleumdet. Die Verteidigung werde prominente Zeugen aus Politik und Kirche laden, die das Gegenteil beweisen könnten.