Das schwimmende Klassenzimmer

■ „Fremdsein in Deutschland“ – Ein Schülerfilm aus Bad Driburg im Forum

Der Film habe „im Auswahlgremium viele Diskussionen ausgelöst“, gibt uns Ulrich Gregor vor Beginn der Vorstellung vieldeutig mit. Der Bemerkung folgt ein 70-minütiger Streifzug durch die deutsche Geschichte, der so gut wie nichts über sein vermeintliches Thema, dafür ums so mehr über seine Hersteller verrät. Eine Schülergruppe aus Bad Driburg und ihr Lehrer haben sich mit dem Regisseur Horst Seemann in ein Boot gesetzt und sind durch Berlin geschippert. Mit an Bord ist Sohn des „Reichskanzlers“ Gustav Stresemann. Höflich fragen ihn die Jugendlichen: „Herr Stresemann, waren die zwanziger Jahre wirklich so golden?“

Wolfgang Stresemann ist der erste von acht „Zeitzeugen“, die von den Jugendlichen befragt werden. Die Interviewten antworten fast alle nur inhistorisch verbrämte Anekdötchen. Papen und Hitler waren „wie Hund und Katze“ (Stresemann), an der Mauer wurde auch mal „mit Absicht danebengeschossen“ (Rainer Hildebrandt, Betreiber des Checkpoint- Charlie-Museums), und Oppositionsfrau Ulrike Poppe hatte Wanzen in der Decke. In einer mürbe machenden Mischung aus Naivität und einstudierter Reporter-Professionalität fragen die jungen Skipper Arthur Brauner: „Für viele stellt der Fremdenhaß in Deutschland eine Bedrohung dar. Wie sehen Sie das?“

Die Schüler sehen das alles in ihrem Bad Driburg wohl eher durch die große, bunte Fernsehbrille. Irgendwie fnden sie es ganz schlimm, was so in Deutschland passiert, und das hat ja bestimmt auch seine Gründe – in der Vergangenheit oder so. Und so machen sie sich mit ihrem tapferen Lehrer auf in die Hauptstadt allen Übels: Berlin. Hier ist Bad Driburg weit, der Osten nah; Faschos, von den Kids selbst gespielt, rennen über den Potsdamer Platz, einer ruft die Polizei, und die Faschos fragen ihren alten Schulfreund, der sich nicht so recht zwischen den Fronten entscheiden mag: „Kommst du nun mit uns, oder willst du mit dem Pack rumhängen?“

„Fremdsein in Deutschland“. Damit meinen die Schüler letztlich wohl nicht Ausländer, sondern sich selbst. In Spielszenen, die notwendig wie Schülertheater wirken müssen, wollen sie ihre Gefühle umsetzen: Der stramme FDJler und die freiheitsliebende DDRlerin streiten sich unterm Honecker-Porträt an der Klassenzimmerwand.

Bei den Schülern resultiert aus dem Unverständnis der Gegenwart eine romantisierende Goodwill-Gesinnung, die glaubt, mit „Nie wieder!“-Pappschildern und fetzigen Deutschrockhits den Ausländerhaß bekämpfen zu können. Und so singen unsere jungen Geschichtsforscher den Schlager zum Film auch noch selbst: „Hab endlich Mut zum Handeln, damit die Liebe brennt. Mut zum handeln für eine bessere Welt“.

In der Aula von Bad Driburg mag das durchgehen, aber auf dem Forum der Berlinale? Regisseur Horst Seemann muß sich vorwerfen lassen, in siebzig Munuten durch die deutsche Geschichte geritten zu sein, als sei man im Dino- Erlebnispark. Kaum haben wir uns von den Jugendlichen die Judenverfolgung vorspielen lassen, bauen schon zwei Schülerinnen als Trümmerfrauen Berlin wieder auf. Bruchlos folgt der nächste Markstein: fleißige Maurer bauen, man faßt es bis heute nicht, mitten durch Berlin eine Mauer: „Konnten die Amerikaner das nicht verhindern, Herr Hildebrandt?“

Kaum ist „The Wall“ gefallen, tauchen die Nazis schon wieder auf. Blau ist der Himmel über dem Potsdamer Platz, böse sind die Nazis. Geschichte in hübsch ausgeleuchteter 35-mm-Ästhetik. Bei der anschließenden Diskussion war Gregor Ulrich verschwunden. Die anwesenden Eltern und Erzieher zeigten sich begeistert – von ihren Kindern. Andreas Becker

„Fremdsein in Deutschland“, Regie: Horst Seemann, Deutschland 1995, 70 min.