■ Tschetschenien und die westliche Strategie
: Keine atlantische Öffentlichkeit

Der Fall Tschetschenien wird kein Einzelfall bleiben. Er ist zwar ein Sonderfall, weil er sich in Rußland selbst abgespielt hat. Damit er keine Nachahmer findet, die die Russische Föderation insgesamt auseinandersprengen könnten, hat Moskau so hart eingegriffen. Die meisten Problemfälle werden in den anderen Staaten der früheren Sowjetunion auftreten. Dort gibt es viele Russen, die, einstmals zur politischen Elite zählend, sich jetzt im Stand einer ungeliebten Minderheit wiederfinden. Bürgerkriege und Konflikte sind programmiert, Jugoslawien bietet das Muster.

Der Westen steht damit vor der großen Frage, welche Strategie er in solchen Fällen einschlagen und welche Politik er mit dieser Strategie betreiben sollte. Im Fall Tschetschenien hatte der Westen drei strategische Optionen. Er konnte gegen Rußland Sanktionen verhängen, also die Menschenrechtsverletzungen bestrafen. Er konnte sich, zweitens, auf den rechtlich einwandfreien Standpunkt zurückziehen, daß der Austritt eines Landes aus dem russischen Staat dessen innere Angelegenheit darstellt, in die man sich nicht einmischen darf. Ohne diese Grenze zu überschreiten, konnten wir, drittens, dennoch versuchen, politisch wirksamen Einfluß auf Moskau zu nehmen.

Die richtige Auswahl der Strategie hängt zunächst von der Einschätzung Rußlands ab. Nun ist das Rußland Jelzins gewiß kein Gegner mehr, es ist aber auch kein Alliierter. Rußland gilt, nach richtiger Selbsteinschätzung, als Partner des Westens. Es ist noch keine Demokratie, aber auf dem Wege dahin. Seine Marktwirtschaft entwickelt sich, seine Medien genießen schon große Freiräume für Kritik, auch die Rede- und Meinungsfreiheit gibt es in erfreulichem Ausmaß.

Solche Überlegungen über den inneren Zustand Rußlands und seine Beziehungen zum Westen relativieren in keiner Weise die Greuel, die die russische Armee in Grosny auch weiterhin anrichtet. Diese Gedanken beschönigen nichts, helfen lediglich dabei, die richtige Strategie auszuwählen. Und richtig ist die, die Erfolg verspricht. Damit scheiden Sanktionen aus, weil sie den Partner wieder in einen Gegner rückverwandeln und ihn zur Abschottung veranlassen würden. Ein politisches Stirnrunzeln hingegen, wie die Entscheidung des Europarates, Rußlands Aufnahme in diesen Rat zu verschieben, kann nicht schaden. Als in Griechenland die Obristen zur Macht und zur Gewalt griffen, hat der Europarat die Mitgliedschaft Griechenlands suspendiert. Das war gut und nützlich.

Die westlichen Regierungen haben die zweite Strategie gewählt. Unter Berufung auf das Nichteinmischungsprinzip haben sie offiziell nichts unternommen, haben hingegen „privat“ einiges versucht. Das war auch richtig, freilich nicht sehr wirksam. Telefonische Ermahnungen, die vertraute Kabinettsdiplomatie, vermögen aber wenig auszurichten, wenn es im Nachbarland um die Macht geht.

War der Westen also hilflos, einflußlos? Keineswegs. Gerade in einer Partnerschaft ist die Umwelt sehr einflußreich. Den Gegner interessiert sie nicht, weil er weiß, daß sie ihm eben feindlich gegenübersteht. Dem Partner aber muß an seiner Umwelt liegen. Er ist mit ihr durch viele wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Beziehungen verbunden. Er will mit ihr zusammenarbeiten und davon profitieren. Er ist auf diese Umwelt angewiesen, muß also darauf bedacht sein, von ihr gut angesehen zu werden.

Diesen Zusammenhang hätte der Westen ganz anders ausnutzen können, als er es getan hat. Europa hätte viel mehr Öffentlichkeit herstellen müssen. Es gab nur wenige Entschließungen westlicher Parlamente; sie kamen zudem, wie die des Bundestages, sehr spät. Die OSZE hätte ebenfalls sehr viel mehr tun können, als sie wirklich tat. Sie hätte nicht nur ihren Krisenmechanismus in Bewegung setzen sollen, sie hätte vor allem eine Sondersitzung, gerade auch eine ihrer parlamentarischen Versammlungen veranstalten müssen. Dort sind Parlamentarier aus allen Staaten der atlantischen Region, die von Vancouver bis Wladiwostok reicht, präsent. Sie wäre ein ideales Forum gewesen, um das Problem der Abspaltung Tschetscheniens und der russischen Reaktion darauf in aller atlantischen Öffentlichkeit zu diskutieren. Die westlichen Medien haben zwar in ausreichender Fülle die Bilder des Krieges übermittelt. Eine westeuropäische Öffentlichkeit aber, hergestellt durch die Parlamente der Staaten und der OSZE, hätte auch die Ursachen dieses Krieges zu diskutieren und zu kritisieren gehabt.

Die Wirkung einer solchen lautstarken Öffentlichkeit sollte man nicht unterschätzen. Genauso wie ein streitendes Ehepaar aufhören wird, sich mit Geschirr zu bewerfen, wenn es feststellt, daß die Nachbarschaft zum Fenster hereinschaut, hätten vielleicht auch manche Politiker in Moskau angesichts der aktiven Öffentlichkeit in Europa ihre Politik geändert. Denn diese Öffentlichkeit hätte ja die Entscheidungen der einzelnen Politiker registriert und überprüft, hätte sie jedenfalls aus dem Dunkel des Kreml hervorgeholt. In dieser Ver-Öffentlichung hätte nicht nur ein mäßigendes, sondern auch ein einflußreiches Element liegen können. Es hätte die kompromißbereiten Kräfte unterstützt und die Gewaltpolitiker geschwächt.

Die Diskussion könnte aber noch mehr erbringen als nur Kritik. Die Tschetschenienkrise verdeutlicht, daß in ganz Europa ein Grundsatzproblem zur Lösung ansteht, nämlich das Konzept des Nationalstaats. Es ist eindeutig veraltet. Für den Nationalstaat ist der Selbsterhalt oberstes Ziel, die Bewahrung der Macht der Zentralregierung das zweite. Deswegen konnte, auch nach anerkanntem Völkerrecht, Rußland Tschetschenien gar nicht ziehen lassen. In demokratisch verfaßten Gesellschaften aber sollte nicht der Nationalstaat, sondern sollten die Existenz des einzelnen und die Entfaltung dieser Existenz die oberste Richtschnur abgeben. Zu ihren Gunsten muß ein neues Konzept von Staatlichkeit ersonnen werden. Herrschaft muß funktionalisiert, das Selbstbestimmungsrecht der Völker in diesem Konzept endlich ernst genommen werden. Es muß nicht in allen Fällen zu Souveränität und Selbständigkeit, also zu neuer Staatlichkeit, führen, wohl aber zu größtmöglicher Autonomie, vor allem wirtschaftlich und kulturell.

Die beste Strategie des Westens gegenüber Sezessionskriegen und Minderheitenkonflikten bestünde also darin, sich als aktive Umwelt des Partners Rußland aufzuführen, mit politischer Kritik, aber auch mit konzeptuellem Rat den Reformkräften zu helfen. Auf einen demokratischen oder sich demokratisierenden Staat kann die Umwelt tatkräftig Einfluß nehmen – vorausgesetzt, sie begreift sich als strategisches Instrument, mit dem sich der demokratische Prozeß beim Partner wirksam stärken läßt. Ernst-Otto Czempiel

an der „Hessischen Stiftung für Friedens- und

Konfliktforschung“