Sozialer Lückenbüßer

Wenig Personal und eingeschränkte Behandlungsmöglichkeiten – das Haftkrankenhaus im Moabiter Knast weist gravierende Mängel auf / Ärzte und Pflegepersonal sind „Diener zweier Herren“  ■ Von Dorothee Winden

Im Zeitlupentempo öffnet der junge Mann im Krankenbett die Augen, als die Tür aufgeht. Doch er nimmt nicht wirklich wahr, was um ihn herum geschieht. Seit sechs Wochen ist er in völlige Teilnahmslosigkeit versunken, aus seiner Nase ragt ein dünner Schlauch. Nach einem Raubüberfall, an dem er beteiligt war, ist er auf seelische Tauchstation gegangen.

„Er verkriecht sich vor dem, was passiert ist“, sagt Rainer Rex, Leiter des Moabiter Haftkrankenhauses. „Solche psychogenen Reaktionen gehen entweder sehr schnell weg, oder sie dauern sehr lange“, weiß er aus Erfahrung. „Wenn er aus der Tauchstation nicht raus will, dann bleibt er ein Pflegefall.“ Auf richterlichen Beschluß wird der Mann jetzt in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik verlegt.

Der Untersuchungsgefangene gehört zu den schwereren Fällen im Haftkrankenhaus. Üblicher sind Knochenbrüche, Schnittwunden, Sportverletzungen, Infektionskrankheiten wie Hepatitis oder mit steigender Tendenz auch wieder Tuberkulose.

Am späten Nachmittag wirkt das Krankenhaus gespenstisch leer. Daß hinter den verschlossenen, numerierten Zellen Patienten sitzen, läßt sich nur an den kleinen handgeschriebenen Schildern an den Türen erkennen. „Vegetarier“ oder „leichte Schonkost“ heißt es da zur Orientierung des Pflegepersonals. Anders als „draußen“ machen die Patienten hier keinen Schritt ohne Bewachung. Das Schlüsselbund gehört ebenso zur ärztlichen Grundausstattung wie das Stethoskop. Auch das Pflegepersonal ist immer „Diener zweier Herren“, wie es der Chirurg Dr. Mühr ausdrückt. Ein weiterer Unterschied: Die Behandlung zahlt nicht die Krankenkasse, sondern die Justizbehörde.

Neben den 6.500 Patienten, die hier jährlich ambulant versorgt werden, betreuen die Ärzte des Haftkrankenhauses 1.600 Strafgefangene stationär. Die 85 Betten sind meist voll belegt. Nur in Ausnahmefällen haben die Insassen ein Zimmer für sich allein. Die meisten teilen sich zu zweit oder dritt eine 15 Quadratmeter große Zelle, die mit drei Betten, einem kleinen Tisch und einem Spind schon völlig zugestellt ist.

In einer dieser Zellen sitzt ein schmächtiger 40jähriger mit resignierter Miene an einem kleinen Holztisch und liest. Von seinem Mitgefangenen schaut nur ein Haarschopf unter der Bettdecke hervor. Im Bücherregal stehen die Bibel und Agatha Christies Krimi „Das Böse unter der Sonne“. Auf dem einzigen Spind, der hier Platz hat, stapelt sich frische Wäsche. Auf einem Hocker steht ein Fernseher. Die qualvolle Enge wird durch die fünf Meter hohen Wände eher noch betont.

Das Schlimmste sind die Toiletten. Nur eine anderthalb Meter hohe Trennwand trennt sie von den Betten, und wer in dem Verschlag verschwindet, kann behelfsmäßig einen Paravent aus Spanplatten als Sichtschutz vorziehen. Andere Sinnesorgane der Zellennachbarn werden jedoch strapaziert. „Wir müssen den Leuten zumuten, unter den Augen, Ohren und Nasen der anderen ihre Notdurft zu verrichten“, klagt Krankenhauschef Rainer Rex. Auch in hygienischer Hinsicht sind die Toiletten im Krankenzimmer problematisch.

Der vor 125 Jahren erbaute Trakt entspricht in keiner Weise den Erfordernissen eines modernen Krankenhauses und ist auch viel zu klein. Weil alle Räume dringend für die 85 Betten benötigt werden, gibt es weder einen Aufenthaltsraum für das Personal noch für die Gefangenen. Die Folge: Die Insassen hier sind den ganzen Tag eingesperrt, abgesehen von Untersuchungen oder Unterhaltungen mit der Sozialarbeiterin. Für Gespräche mit Rechtsanwälten oder Besuchern steht ein einziger, kahler Raum zur Verfügung. Ist er belegt, bleibt nur der Flur.

Wer in der Lage ist, die tägliche Stunde Hofgang zu absolvieren, ist noch gut dran. Er kann dann um ein kleines Blumenbeet im von hohen Mauern umgebenen Innenhof des Krankenhauses im Kreis laufen. „Das würde man keinem Tier im Zoo zumuten“, findet Rex.

Im Schnitt liegen die Patienten 28 Tage im Haftkrankenhaus. Einer, der den Durchschnittswert beträchtlich in die Höhe treibt, ist zugleich der prominenteste Insasse, Erich Mielke. Seit über vier Jahren sitzt der ehemalige Stasi-Chef im dritten Stock ein. Mehr Details sind Rex nicht zu entlocken.

Die hohe durchschnittliche Liegedauer ist aber auch darauf zurückzuführen, daß immer wieder psychisch Kranke im Haftkrankenhaus untergebracht werden müssen, weil in der Psychiatrisch- Neurologischen Abteilung im Tegeler Gefängnis alle 35 Plätze belegt sind. Den tätsächlichen Bedarf schätzt die Senatsverwaltung für Justiz auf rund hundert Plätze. Die psychisch Kranken im Haftkrankenhaus unterzubringen hält der Leiter des Moabiter Gefängnisses, Wolfgang Fixson, für eine „unzumutbare Situation“. Doch dies sei immer noch besser, als sie dem harten Knastalltag auszusetzen. Mal seien es fünf, mal zehn Gefangene mit psychischen Störungen, die hier teilweise für Wochen unterkommen.

„Die Zustände im Haftkrankenhaus können nur noch für eine gewisse Zeit hingenommen werden“, stellt Fixson fest, und auch in der Senatsverwaltung für Justiz gibt Senatsrat Christoph Flügge die lange Liste der Mängel unumwunden zu. Alle Hoffnungen richten sich auf das geplante Haftkrankenhaus in Buch. Mit einem Baubeginn ist allerdings erst 1997 zu rechnen. Ob es noch vor der Jahrtausendwende bezugsfertig ist, wagt niemand vorherzusagen.

So lange müssen sich Ärzte und Pflegepersonal wohl mit zahlreichen Beeinträchtigungen abfinden. „Die Chirurgie wird nur auf absoluter Sparflamme betrieben“, räumt Fixson ein. Der 90 Quadratmeter große Operationssaal wurde bereits vor vier Jahren von der Gesundheitsbehörde gesperrt, unter anderem weil eine Schleuse fehlt, die den sterilen Bereich abschottet. Zulässig sind jetzt nur noch kleine Eingriffe.

Das zieht Probleme nach sich. Für größere Operationen müssen die Gefangenen unter Bewachung in reguläre Krankenhäuser gebracht werden – bei der knappen Personaldecke durchaus ein Problem. Jeder Gefangene, der „draußen“ bewacht werden muß, bindet pro Woche zehn Beamte. Trotzdem hat schon mancher Straftäter die Gelegenheit genutzt, sich aus dem Staub zu machen.

Die eingeschränkten Behandlungsmöglichkeiten haben eine weitere Folge: Wenn plötzlich mehrere Gefangene mit akuten Erkrankungen wie einer Blinddarmentzündung in andere Krankenhäuser verlegt werden, müssen dort geplante und aufschiebbare Behandlungen schon mal zurückgestellt werden. „Es ist immer eine Gratwanderung“, stellt Rex fest. Gerät ein Arzt angesichts solcher Einschränkungen nicht in Konflikt mit seinem Selbstverständnis? „Der Vollzug begrenzt mich wenig. Man lernt auf dieser Klaviatur zu spielen, indem man das System verinnerlicht“, erklärt Rex. Schmerzliche Entscheidungen habe er nur „sehr selten“ treffen müssen. Einem Chirurgen, der sich mit den Einschränkungen des Haftkrankenhauses nicht abfinden mochte und versuchte, dagegen anzugehen, wurde im vergangenen Jahr fristlos gekündigt.

Der Arzt im Strafvollzug ist „sozialer Lückenbüßer“, sagt Rex. „Viele Menschen tauchen in einem elenden Zustand bei uns auf.“ Als Mediziner müsse er oft die Rolle des „Amateursozialarbeiters und Amateurpsychologen“ übernehmen. Zu den häufigsten Krankheiten gehörten nicht zufällig Rükken- und Kopfschmerzen, die stark psychosomatisch bedingt seien.

Große Sorgen bereiten Rex die aidskranken Inhaftierten: „Ich habe Fälle, die bei einem Gnadengesuch beste Chancen hätten, aber draußen gibt es keine Pflegeplätze für sie.“

Zwei bis fünf Aidskranke seien in der Haftanstalt untergebracht. Die Zahl der HIV-Positiven, die bekannt seien, liege „seit Jahren ohne steigende Tendenz“ zwischen 90 und 110. Etwa zweimal im Jahr gelingt es Rex, Aidskranke rauszuvermitteln. Er hat auch schon kurz vor der Haftentlassung „die Notbremse ziehen“ und Schwerkranke mangels Pflegeplatz in Kliniken unterbringen müssen. „Da sterben sie dann nach acht Wochen“, sagt er. „Darunter leide ich am meisten.“