Blindheit und Einsicht oder Der Poker um die Staatssicherheit

Dabeisein oder Dagegensein. Soziologische Anmerkungen zur DDR als „Organisationsgesellschaft“ und zur moralischen Rede über die Stasi und IMs aus Anlaß des „Falls“ Bertram  ■ Von Dirk Baecker

Solange die Debatte um die formellen und informellen Mitarbeiter der Staatssicherheit unter dem Damoklesschwert der Moral geführt wird, kann eins und nur eins zur Entscheidung stehen: der Achtungsgewinn oder der Achtungsverlust von Personen. Das ist die Entscheidung, die von der Moral getroffen wird. Eine andere kann sie nicht treffen. Alle Informationen über Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, über die Verhältnisse, wie sie sind und wie sie waren, müssen dann in diese Frage der Achtung oder Mißachtung der Personen, die sich so oder so verhalten, eingespeist werden. Das führt zu Verzerrungseffekten in der Information und in der Beurteilung von Personen, die man zu selten in Rechnung stellt. Über lauter Aha-Effekten werden die Verhältnisse unbeschreibbar. Jede Information wird nur im Spiegel dieser Beurteilung gelesen, und umgekehrt sucht sich die Beurteilung die Informationen, die sie brauchen kann. Der Moraldiskurs erhitzt die Debatte und dünnt sie nahezu zeitgleich zur Unkenntlichkeit aus.

In mindestens zwei Hinsichten führt der „Fall“ Lutz Bertram über den bisherigen Stand der Staatssicherheits-Diskussion hinaus. Erstens bringt er, willkürlich oder unwillkürlich, die Frage persönlicher Kriterien ins Spiel, die die Frage der Achtung oder Mißachtung unterläuft. Und zweitens deckt er eine Dynamik der informellen Mitarbeit auf, die ein erhellendes Licht auf den Mechanismus der Staatssicherheit insgesamt wirft. In beiden Hinsichten geht es um das Verhältnis von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, von Kausalität und Eigensinn, um die Beziehung zwischen den Verhältnissen, die so sind, wie sie sind (bzw. so waren, wie sie waren), und dem Spielraum, den man in diesen Verhältnissen sich schaffen und auch wieder verlieren kann (heute wie damals).

In beiden Hinsichten geht das Wissen um diese Verhältnisse, das man selbstverständlich, und ohne es zu wissen, hatte, solange es die Verhältnisse gab, mit den Verhältnissen verloren. Deswegen fällt die „Aufarbeitung“ so schwer. Das implizite Wissen, das mehr in den Verhältnissen und in dem Verhalten steckt, das man in ihnen gefunden hatte, als in den Köpfen, ist jetzt zu explizieren. Dafür fehlen die Kategorien. Und wenn sie dafür nicht fehlen, dann fehlen sie spätestens für die Beschreibung des Unterschieds, der zwischen einem impliziten Wissen, einem gelebten Wissen, und einem expliziten Wissen, einem formulierten und für Beschreibungen tauglichen Wissen besteht. Ganz zu schweigen davon, daß die Rechtfertigung, die der Leitfaden der Explizierung ist, fast nichts mit dem gelebten Leben des implizierten Wissens zu tun hat.

Vor der Aufdeckung des Umstands seiner Erblindung, die Bertram nach seiner unterdessen bezweifelten Darstellung dazu gebracht hat, sich auf die informelle Mitarbeit einzulassen (weil er sich einen Reisepaß und damit Reisemöglichkeiten in die Kliniken des Westens sichern wollte), verstummt die moralische Urteilskraft nicht etwa deswegen, weil die Moral gegenüber einem Umstand dieser Art unzureichend wäre. Im Gegenteil. Gerade vor solchem Schicksal hat sie sich nach alter Christensitte zu bewähren. Nein, was sie verstummen läßt, lassen könnte, ist der Gestus, mit dem dieser Umstand als ein nicht bewältigter, Panik auslösender ans Licht gebracht wird. Da wendet sich jemand sich selber zu und erkennt, daß er nichts über sich weiß. Dürfte man sich auf diese Metaphorik einlassen, könnte man sagen: Da wird ein Blinder sehend. Wer da moralisch nachsetzt, beherzigt die alte Regel nicht, daß nicht mit Steinen werfen sollte, wer im Glashaus sitzt. Bertram führt den letzten Akt individueller Sozialisation in dieser Gesellschaft vor, der darin besteht, sich als sich selbst unbekannt zu erkennen. Daß man nicht weiß, ob dies gespielt ist oder nicht, gehört mit zum Sozialisationserfolg. Dagegen die Transparenzannahme aufrechtzuerhalten, war immer schon Sinn der Moral. Aber man sollte nicht verkennen, daß dieser Sinn nur dann Sinn macht, wenn man hinter der Transparenz das Opake anerkennt. Die erste Hinsicht, in der Bertram über den bisherigen Stand der Staatssicherheits-Diskussion hinausführt, ist somit die Komplikation der moralischen Urteilskraft durch das Wissen um die Dialektik von Blindheit und Einsicht. Er macht sich selbst zum „Fall“ und ist auch darin noch die „Stimme der Transformation“, als die er jahrelang mit gleichsam rebellischer Lernfähigkeit und genauem Gespür für Leerformeln und blinde Flecken der Politik den Prozeß der Kolonialisierung Ostdeutschlands durch Westdeutschland begleitet hat.

Bertram streift damit die Autopsychoanalyse. Aber er betreibt sie nicht. Es geht nicht um verschüttete Kindheitserlebnisse, sondern um nur allzu offenliegende Fakten der jeweiligen individuellen Verfassung. Es geht auch nicht um Motive, die jemanden dazu bringen, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Es geht darum, daß mehr oder weniger zufällige individuelle Umstände sich so sehr der Aufmerksamkeit aufdrängen können, daß sie alles andere verdunkeln.

Niemand würde behaupten, daß die offiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit mit dieser Dialektik von Blindheit und Einsicht, von Aufmerksamkeit und Abdunkelung virtuos zu spielen gewußt hätten. Sie unterlagen dieser Dialektik selbst und versuchten sie zu nutzen, soweit sie ihnen verfügbar war. Die zweite Hinsicht, in der der „Fall“ Bertram wichtige Aufschlüsse gibt, ist der Hinweis auf die Rolle, die die Gespräche zwischen informellem Mitarbeiter und Führungsoffizier der Stasi bei diesem Poker um die Staatssicherheit gespielt haben. In diesen Gesprächen spiegelt sich eine Grundstruktur der DDR-Gesellschaft, die gleichsam von Tag zu Tag in weitere Ferne rückt und daher immer unverständlicher wird.

Detlef Pollack hat die DDR-Gesellschaft als eine „Organisationsgesellschaft“ beschrieben, das heißt als eine Gesellschaft, die sich selbst behandelt, als sei sie eine Organisation (in: Zeitschrift für Soziologie, Bd. 19, 1990). Im Unterschied zur Gesellschaft, die nichts anderes „ist“ als die Menge aller möglichen Kommunikationen, besteht eine Organisation darauf, ihre Mitglieder von Nichtmitgliedern unterscheiden zu können und nur die Kommunikation von Mitgliedern für relevant zu halten. Die Einheit einer Organisation ist die Mitgliedschaft, die Einheit einer Gesellschaft die Kommunikation.

Eine Gesellschaft kann sich nur dann als eine Organisation behandeln, wenn sie auf die Möglichkeit der Politik zurückgreift, mit Hilfe von Staatsgrenzen ein Territorium zu markieren, von dem dann behauptet werden kann, daß alle, die sich auf ihm befinden, Mitglieder dieser Gesellschaft sind. Das ist eine hochartifizielle Konstruktion, denn kaum eine Kommunikation hält sich an diese territorialen Grenzen. Wirtschaftliche Beziehungen, kultureller Austausch, die Suche nach Liebespartnern und nicht zuletzt die Politik der Feinde und Freunde gehen über diese Grenzen hinweg und stellen sie allenfalls als Hindernis oder Gelegenheitsstruktur in Rechnung. Nur der Staat lebt davon, diese Grenzen aufrechtzuerhalten – notfalls mit Hilfe einer Mauer.

Ebenso dramatisch wie der Mauerbau ist jedoch die Doppelbehandlung aller Kommunikationen, die in einer Territorialgesellschaft ablaufen. Was sich in der modernen Gesellschaft in jenem Normalfall, der in der amerikanischen und in der französischen Revolution durchgesetzt wurde, als Wirtschaft, Recht, Politik, Erziehung oder Kunst behauptet, das wurde in der DDR-Gesellschaft der zusätzlichen Erkennungsregel unterworfen: Mitglied der Gesellschaft oder Nichtmitglied der Gesellschaft. Bei wem man arbeitete und mit wem man Handel betrieb, wessen Positionen man für rechtmäßig oder für unrechtmäßig hielt, wessen Politik man unterstützte oder nicht unterstützte, mit welchen Zielen man erzog und sich erziehen ließ, welche Theman man in seinen Dramen und auf seinen Bildern behandelte oder nicht behandelte: Es war unmöglich, damit nicht zugleich eine Aussage über die eigene Stellung zu den Programmen der DDR-Organisation und damit über die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu ihrer Gesellschaft zu treffen.

Die Doppelbehandlung aller Kommunikationen wurde dadurch abgesichert, daß jede beliebige gesellschaftliche Kommunikation Konsequenzen in Bereichen haben konnte, die mit ihr nichts zu tun hatten. Diese Konsequenzen, die nur die Partei ziehen konnte, verknüpften jeden Punkt der Gesellschaft mit jedem anderen, so daß der Fiktion der Organisationsgesellschaft bald ihre Realität entsprach.

Gleichzeitig konnte man nie genau wissen, woran man war. Auf Tauwetter, in dem dem Eigensinn von Wirtschaft, Kunst und Erziehung mehr Raum gegönnt wurde, folgten wieder Eiszeiten, in denen die Staatspartei die Mitgliedschaftsfrage in jeden Winkel der Gesellschaft hineintrieb und für alle Handlungen und Äußerungen, die nicht den Mitgliedschaftskriterien gehorchten, gnadenlos Rechenschaft forderte. Kontakte zur Staatssicherheit empfahlen sich schon deswegen, damit man diese Wechsel rechtzeitig bemerkte.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die DDR-Geschichte die Beobachtung des Wechsels zwischen Tauwetter und Eiszeit. Darum sind Daten hier viel wichtiger als anderswo: 1953 Juniaufstand, 1956 Ungarn, 1961 Mauerbau, 1968 Prag, 1971 Anerkennung der DDR, 1976 Ausweisung von Biermann, 1980 Polen, 1985 Gorbatschow, von den Daten von Parteitagen, Plankorrekturen, Kulturkonferenzen ganz zu schweigen. Jede Kommunikation, die der Doppelbehandlung unterworfen wurde, wußte um die Möglichkeit dieses Wechsels und wußte daher auch, daß man je unterschiedlich mal die Seite des Eigensinns von Wirtschaft, Kunst und Erziehung und mal die Seite des Durchsetzungswillens der Partei stark machen konnte. Das wurde daher die „kommunikative Grundstruktur der DDR“, wie sie Klaus Wolfram in seiner „Geschichte des guten Willens“ beschreibt (in: Sklaven, Heft 2, Juli 1994): Wo immer Kommunikationen stattfanden, die doppelbehandelt werden mußten, standen sich „Bürger“ und „Funktionär“ gegenüber, die im Schatten der Partei aushandeln mußten, wie das Mögliche und Notwendige mit dem Opportunen vereinbart werden konnte. Jeder Bürger konnte als Funktionär agieren, und jeder Funktionär als Bürger, quer durch die Hierarchien der Gesamtorganisation, die in der Funktionärsperspektive ihre Identität und in der Bürgerperspektive ihren Kontakt zur Gesellschaft wahrte.

Die Unsicherheit in der Frage, welche Perspektive jeweils zu verfolgen sei, garantierte, daß immer wieder beide Perspektiven eine Rolle spielen konnten. In dieser Unsicherheit verankerte sich die DDR-Gesellschaft. Sie setzte die Laviermaximen frei, die den Kitt dieser Gesellschaft ausmachten. Als Gorbatschow auftrat, war es damit vorbei. Er zwang zur Entscheidung, die bisher immer aufgeschoben wurde, und er wurde als dieser Zwang zur Entscheidung von vielen auch begrüßt, obwohl und weil damit ein Spiel der Gesellschaft zu einem Ende kommen mußte.

Von dieser neuen Lage, aber mehr noch von der kommunikativen Grundsituation, die in dieser neuen Lage aufs Spiel gesetzt wurde, profitierte die Staatssicherheit. Sie hatte die unverzichtbare Aufgabe, sowohl die Doppelbehandlung aller Kommunikation durchzusetzen, also noch im letzten Winkel der Gesellschaft nach potentiellen Nichtmitgliedern zu fahnden, als auch für die erforderliche Unsicherheit in bezug auf den Wechsel zwischen Tauwetter und Eiszeit zu sorgen.

Gleichzeitig jedoch war sie in der privilegierten Situation, das Dilemma der DDR-Gesellschaft als ihre Einheit und ihre Einheit als ihr Dilemma beobachten und formulieren und mit ihren Maßnahmen auch forcieren zu können. Was zusammenhielt, das war die Möglichkeit, jeden Bürger als Funktionär zu behandeln. Was die DDR-Gesellschaft aufrechterhielt, das war die Möglichkeit, jeden Funktionär auch als Bürger anzusprechen. Wer dem Funktionär begegnete, verlor alle Hoffnung. Wer den Bürger sah, schöpfte neue. Nirgendwo war daher die Kippe, auf der die DDR- Gesellschaft stand, genauer zu beobachten als in den Gesprächen mit der Staatssicherheit.

Soeben erschienen: Dirk Baecker, „Postheroisches Management“, Merve Verlag Berlin