Keine Alternative zur Platte

Modernisierung der Ost-Hochhäuser kostet 23 Milliarden / Nagel: Abrißforderung ist „Sozialismus-Exorzismus“ / Sanierung geht vor Neubau  ■ Von Lars Klaaßen

Plattenbauten – ungeliebt und unabkömmlich sind diese Synonyme für DDR-Architektur. Von den fast 470.000 Wohnungen, die das Land Berlin aufgrund des Einigungsvertrages 1990 übernommen hat, sind 273.000 industriell gefertigt. Dieser Wohnungsbestand kann in absehbarer Zeit unmöglich durch Neubau ersetzt werden, zumal die Instandhaltung der Plattenbauten wesentlich billiger ist. Generelle Abrißforderungen sind daher bloßer „Sozialismus-Exorzismus“, so Wolfgang Nagel, Senator für Bau- und Wohnungswesen. Es stelle sich die Frage, was aus der Platte langfristig gemacht werden kann, wieviel das kosten wird und wer es zahlen soll.

Beantworten müssen das vor allem die elf Wohnungsbaugesellschaften des Landes Berlin und dreißig Wohnungsgenossenschaften, die mit einem Bestand von 170.000 und 95.000 Wohnungen zu den bedeutendsten Eigentümergruppen der Stadt gehören: Bereits 1992 ließ die Senatsbauverwaltung eine „Bestandsaufnahme und Bewertung der industriell errichteten Wohngebäude“ erstellen. In dieser bautechnischen Untersuchung wurden die zehn wichtigsten Wohnungsbautypen, die in Berlin in Plattenbauweise errichtet worden sind, unter die Lupe genommen. Aspekte der Konstruktion und Bauphysik standen dabei im Mittelpunkt.

Das brennendste Problem ist der Instandsetzungs- und Modernisierungsbedarf der einzelnen Gebäude: „In den Jahren 1994 bis 1996 werden jeweils 300 Millionen Mark Fördermittel für diese Maßnahmen bereitgestellt“, berichtet Jochen Hucke, Gruppenleiter der Modernisierungs- und Instandsetzungsförderung bei der Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen. 50.000 Wohnungen sollen mit diesem Geld fit gemacht werden. Im vorigen Jahr sind die ersten 10.000 saniert worden.

Die Senatsrichtlinien mit dem schönen Kürzel InstMod 94 regeln, wer wofür Geld bekommen kann: 21 verschiedene Maßnahmen von der Dachsanierung bis zur getrennten Abfallbeseitigung werden gefördert; allerdings nur ganz bestimmte, die vom jeweiligen Gebäudetyp abhängen. Was bei welcher Gebäudeserie bezuschußt wird, wurde aufgrund der Bestandsaufnahme von 1992 entschieden.

Um bei einem Schuldenberg von rund 10 Milliarden Mark (1993), der auf den Plattenbauten lastet, noch instand setzen oder modernisieren zu können, nehmen viele Genossenschaften und Wohnungsbaugesellschaften zinsgünstige Darlehen bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau auf. Diese Bundesförderung kann bis zu 500 Mark pro Quadratmeter Wohnfläche betragen. In Berlin erhielten 304 Antragsteller im Jahr 1994 Zusagen über insgesamt fast 1,4 Milliarden Mark. Damit wird die Instandsetzung, Modernisierung und Wohnraumverbesserung von über 132.000 Wohnungen unterstützt.

Umfang und Art der Mängel sind in den Bezirken unterschiedlich: Von den 36.000 Wohnungen der Wohnungsbaugesellschaft Marzahn wurden im vergangenen Jahr 3.000 instand gesetzt. „In zehn Jahren soll der gesamte Bestand grundsaniert sein“, hofft Pressesprecherin Erika Kröber. Hauptprobleme sind die schadhaften Dächer und die Wärmedämmung. Außerdem bereite der nasse Boden Marzahns Probleme: das Wasser sei bereits in viele Keller gesickert. Die Gebäude sind nämlich nur gegen die übliche Bodenfeuchte geschützt.

Abhilfe schaffen Entwässerungsrohre, die rund um die Häuser verlegt werden. Dabei müssen tiefe Löcher rund um die Plattenbauten gegraben werden, was nicht nur technisch, sondern auch finanziell eine Herausforderung ist. „Ohne die Mithilfe der Mieter, die oftmals ihre Wohnung zugänglich machen müssen, kämen wir nicht so schnell voran“, freut sich Kröber trotz allem.

Anders als in Marzahn werden die Plattenbauten in Lichtenberg nicht komplett überholt, sondern je nach Bedarf instand gesetzt. Ausnahmen bilden Gebäude, bei denen es keinen Sinn mehr hat zu flicken: „In der Erich-Kurz-Straße haben wir so einen Fall, bei dem rundherum instand gesetzt und modernisiert wurde“, berichtet Pressereferent Andrej Eisenfeld. Dringend sei hier vor allem die Sanierung der Betonsubstanz, der Fassade und der Balkonbrüstungen gewesen. Die Betonplatten an den Balkons waren so schwer, daß die Statik des gesamten Gebäudes gelitten hat. Fazit: Die neuen Brüstungen mußten so leicht wie möglich sein. „Schön und billig waren sie deshalb leider nicht“, seufzt Eisenfeld. „Erklären Sie dieses Dilemma erst mal den Mietern.“

Entscheidend für die Standsicherheit der Montagebauten sind die Ringanker. Sie halten die Platten zusammen. „Diese Verbindungspunkte liegen im Verfüllbeton, der erfahrungsgemäß eine höhere Porosität bietet als der Fertigteilbeton und damit einen schlechteren Korrosionsschutz gewährleistet“, erläutert Gerhard Spaethe vom Institut für Erhaltung und Modernisierung von Bauwerken (IEMB). Daß der Zustand der Verbindungen trotzdem gut bis befriedigend ist, führt er auf die oftmals übermäßige Beheizung (bedingt durch alte Heizsysteme) der Gebäude zurück. Spaethe: „Alle Maßnahmen, die die Bauten bauphysikalisch in Ordnung bringen, dienen somit nicht nur der Energieeinsparung, der Hygiene und dem Wohnkomfort, sondern auch der Dauerbeständigkeit der für die globale Standsicherheit wichtigen Schweißverbindungen.“

Laut Bestandsaufnahme des Senats für Bau- und Wohnungswesen liegen die Gesamtkosten für die Instandsetzung des Ostberliner Plattenbaubestandes bei über 4,5 Milliarden Mark. Das entspricht über 16.000 Mark pro Wohnung. Die Modernisierung (inclusive Instandsetzung) ist noch teurer: insgesamt fast 23 Milliarden Mark, also rund 84.000 Mark je Wohnung. Diese Summen entsprechen 30 Prozent der Kosten, die ein kompletter Neubau des Wohnungsbestandes verursachen würde.

Ein Modellvorhaben in Frankfurt (Oder) zeigte jedoch, daß die Aufgaben finanziert werden können, ohne daß die Mieten übermäßig steigen: Nach Modernisierung und Wohnumfeldverbesserung stieg die Warmmiete von 5,04 Mark auf 5,99 Mark. Durch die Verringerung der Betriebskosten und Zuschüsse des Landes wurde die „Mietauswirkung im Rahmen der Sozialverträglichkeit“ gehalten, so das IEMB. Trotz der Kosten hat die Platte also noch eine Zukunft.