Die Angst der Palästinenser im Libanon

Die 350.000 Flüchtlinge sehen sich im Osloer Abkommen zwischen Israel und der PLO nicht berücksichtigt / Die Regierung in Beirut möchte so viele Palästinenser wie möglich loswerden  ■ Aus Ain al-Hilwah Kristoph Kandet

Alhamdu lillah – Gott sei Dank –, sagt Abu Ahmad vor seiner Mahlzeit. Das Mittagessen des alten Palästinensers, der im Flüchtlingslager Ain al-Hilwah bei Saida im Südlibanon lebt, besteht aus Nudeln mit Tomatensoße, Oliven und einem Stück Fladenbrot. Abu Ahmad ruft seine Tochter Su‘ad, damit sie den Kaffee kocht. Aus seiner Tasche zieht er eine Tabakdose, dreht sich eine Zigarette und zündet sie an, nicht ohne mir ebenfalls eine anzubieten. „Gestern, als ich in Saida arbeiten war, kam ein libanesischer Geheimdienstler und fragte, was ich hier tue“, beginnt er zu erzählen. „Ich antwortete ihm, daß ich als Pförtner in diesem Gebäude arbeite. Er wollte meinen Personalausweis sehen, schaute ihn an und warf ihn mir vor die Füße. Als er sich umdrehte und fortging, hörte ich noch seine Flüche auf die Palästinenser.“ Abu Ahmads Stimme klingt zornig. „Das erinnert mich an die alten schrecklichen Zeiten.“

Der alte Mann denkt dabei an die ersten Jahre des Lebens in der Diaspora, nach der Vertreibung aus Palästina 1948. „Damals wurde unser Flüchtlingslager isoliert und schwer bewacht“, erinnert er sich. „Die libanesischen Polizisten und Geheimdienstler haben uns gedemütigt und unterdrückt. Man behandelte uns als Menschen dritter Klasse. Nein, eigentlich sogar so, als seien wir gar keine Menschen.“

Erst Ende der sechziger Jahre, nachdem die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) in den Flüchtlingslagern einen Aufstand geführt hatte, konnte sie mit der libanesischen Regierung ein Abkommen über die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge schließen. Nach der israelischen Invasion im Libanon im Jahre 1982 mußten Tausende von PLO- Kämpfern das Land verlassen. 1987 schließlich kündigte die libanesische Regierung das mit der PLO geschlossene Abkommen auf.

„Seitdem leben wir wie Waisen. Niemand schützt uns, niemand kümmert sich um uns.“ Abu Ahmads Stirn legt sich in Falten. „Das einzige, was mir früher geholfen hat, um das kalte Leben im Exil zu ertragen, war mein Traum, irgendwann in die Heimat zurückzukehren. Heute habe ich nur noch eine Hoffnung: meine letzten Jahre in Ruhe zu verbringen und hier begraben zu werden, bevor wir noch einmal über die ganze Welt zerstreut werden.“

Abu Ahmads Enttäuschung und seine Ängste spiegeln die unter den Palästinensern im Libanon herrschende Verzweiflung und Frustration wider. Das Oslo-Abkommen, das die PLO im September 1993 mit Israel schloß, hat diese Gefühle verstärkt. Dem Abkommen zufolge soll die Frage der Flüchtlinge erst im Rahmen von Verhandlungen über eine „endgültige Lösung“ behandelt werden, die für Sommer 1996 angesetzt sind. Doch daran glaubt kaum ein Palästinenser. Die Hindernisse, die sich bei den Teilautonomieverhandlungen zwischen PLO und Israel bisher stellten und zu Verzögerungen des Zeitplans führten, nähren diese Zweifel.

„Ich glaube nicht, daß er ein Verräter ist. Sie gerät in eine schwierige Lage“, sagt Abu Ahmad. Mit „er“ und „sie“ – zwei unter den Palästinensern im Libanon häufig verwendeten Pronomen – sind Jassir Arafat und die von ihm geführte PLO gemeint. Angesichts des starken syrischen Einflusses im Libanon und der Probleme zwischen der palästinensischen Führung und dem Regime in Damaskus muß man mit Repressalien rechnen, wenn man sich positiv zu Arafat und der PLO äußert.

„Er (Arafat) hatte keine andere Wahl. Alle, die Israelis, aber auch die arabischen Staaten und die ganze Welt, waren gegen uns. Er denkt, daß Gaza und Jericho nur der erste Schritt sind. Aber wir wissen genau, daß die Lösung unseres Problems sehr lange dauern wird. Wenn wir das Gefühl haben, daß er uns verkauft, dann wird dieser hier sich rächen und den Kampf weiterführen.“ Abu Ahmad deutet auf seinen zweijährigen Enkel, der neben der Großmutter auf dem Boden hockt. Abu Ahmads Frau, seine fünf Töchter und Schwiegertöchter, die bisher schweigend im Raum gesessen haben, nicken zustimmend.

Beim Gang durch das Flüchtlingslager Ain al-Hilwah springen einen die Graffiti förmlich an. „Ja zu Munir Makdah!“ und „Hoch lebe unser Führer Munir!“ steht an zahlreichen Hauswänden geschrieben. Munir Makdah, ehemals einer der Günstlinge Arafats und Führer seiner Miliz im Libanon, wurde nach dem Osloer Abkommen im Lager zum Star. Makdah gab bekannt, er lehne den Friedensprozeß ab und sei gegen Arafat. Er scharte Dutzende von Kämpfern aus Arafats Fatah um sich. Mitte November letzten Jahres kam es in Ain al-Hilwah zum offenen Kampf. Arafat-Getreue brachen den Widerstand der gegnerischen Fatah-Splittergruppe um Munir Makdah, die von Kämpfern der islamistischen Bewegungen Hamas und Jihad al-Islami unterstützt wurden, mit Waffengewalt. Dabei kamen mindestens zehn Menschen ums Leben. Doch Munir Makdah verschwand keineswegs von der Bildfläche. Von Zeit zu Zeit gibt er flammende Presseerklärungen heraus, die schnell in die Meldungen der Agenturen und Zeitungen aufgenommen werden. Ihn in Ain al-Hilwah ausfindig zu machen ist ein leichtes. Man braucht nur die Kinder nach der Adresse zu fragen.

Der „Führer“ ist ein magerer Mann mit dichtem Bart, der ihm das Aussehen eines afghanischen „Mujahid“ verleiht. Seine leise Stimme ist kaum zu vernehmen. Seit seinem „Putschversuch“ gegen Jassir Arafat wiederholt er in jedem Interview die gleichen Aussagen: Er wolle ganz Palästina befreien und Arafat ermordet sehen. Er vertrete Fatah, verfüge aber über gute Kontakte zu allen oppositionellen Gruppierungen, sowohl in Palästina als in der ganzen Welt. Er halte es für möglich, überall militärische Aktionen gegen israelische Ziele durchzuführen.

Doch manch einer zweifelt an der Omnipotenz des „Führers“: „Trotz der vielen Kugelschreiber, die er bei sich trägt, ist Makdah Analphabet, und im Grunde macht er viel Lärm um nichts“, behauptet ein junger Mann aus dem Lager. Und es sind nicht allein Makdahs politische Gegner, die dem Gerücht Glauben schenken, daß der „Führer“ immer noch Geld von Arafat erhalte. Es gebe eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den beiden: Makdah übe seine Opposition nur verbal aus, Arafat steuere das Geld bei. Damit ziele der PLO-Chef darauf, daß seine Rivalen nicht Makdah als Karte gegen ihn selbst einsetzen. Auch soll der „Führer“ Arafats Leute im Lager nicht „stören“.

Als Opposition gegen Arafat war noch vor Makdah die in Damaskus gegründete „Allianz der zehn Organisationen“ angetreten. Der Zusammenschluß beherbergt Gruppierungen verschiedenster politischer Couleur: von prosyrischen Gruppen über Marxisten bis hin zu den Islamisten. Aufgrund innerer Streitigkeiten – besonders zwischen der Islamistenbewegung Hamas und der marxistisch orientierten Demokratischen Front – ist die Allianz jedoch praktisch schon tot. Die prosyrischen Splittergruppen wie die baathistische Sai'ka und das Volksfront-Generalkommando um Ahmad Jibril haben so gut wie keinen Einfluß unter den Palästinensern. In den Augen ihrer eigenen Landsleute sind sie „syrische Agenten“.

Seit einigen Monaten bilden die radikale Volksfront um George Habasch und die Demokratische Front um Nayef Hawatmeh, die den Friedensprozeß ablehnen, eine „gemeinsame Führung“. Dies soll einen ersten Schritt in Richtung Vereinigung der beiden Organisationen bedeuten. „Wir versuchen, unserem Volk eine weitere Alternative anzubieten“, sagt Khalid, ein Aktivist der Demokratischen Front, der in Ain al-Hilwah agitiert. „Für viele Palästinenser stellt sich nur die Entscheidung zwischen Arafat und seinem Abkommen oder den Islamisten. Wir wollen uns als säkularistische und demokratische Opposition gegen das Osloer Abkommen präsentieren“, fügt er hinzu. Doch viele Palästinenser werfen den beiden Organisationen vor, keine wirkliche Alternative zum Osloer Abkommen aufzuzeigen. Und auch die Tatsache, daß beide Gruppen ihre Hauptquartiere in Damaskus haben, schadet ihrer Glaubwürdigkeit.

Anders als im Gaza- Streifen und in der Westbank genießen die islamistischen Bewegungen Hamas und Jihad al-Islami in den Flüchtlingslagern im Libanon keine große Unterstützung. Der Grund ist, daß beide Gruppen in den besetzten Gebieten ins Leben gerufen worden sind und in der Vergangenheit keine starke Präsenz in den Lagern hatten. Erst in den letzten beiden Jahren konnten sie ihren Einfluß – auch durch die Hilfe ihrer libanesischen „Kampfbrüder“ – etwas verstärken. Sowohl die proiranische Hisbollah als auch die sunnitische Jama‘at Islamiya (Islamische Gemeinschaft) sind hier aktiv. Sie wirken vor allem im sozialen Bereich. So haben sie Gesundheitszentren, Kindergärten, Schulen und Moscheen errichtet und erteilen ärmeren Familien eine monatliche Unterstützung. Außerdem läßt jede der beiden Gruppierungen die Früchte ihrer Arbeit auch der Organisation zukommen, der sie sich verbunden fühlt: die Hisbollah dem vom Iran unterstützten Jihad al-Islami und die Jama‘at Islamiya der Hamas.

Die Sozialprogramme der Islamisten sind für die Bevölkerung auch deswegen attraktiv, weil die Gelder der PLO längst nicht mehr so reichlich fließen wie seit dem Krieg gegen den Irak, als die reichen Golfstaaten ihre Unterstützung für die Palästinenser strichen, nachdem Arafat Saddam Hussein einen Bruderkuß gegeben hatte. „Aufgrund des Elends und der Verzweiflung suchen viele die Lösung bei Allah und kehren zur Religion zurück. Die PLO konnte seit Jahren wegen ihrer Finanzkrise ihre Institutionen nicht mehr finanzieren. Die Islamisten nutzten die Gelegenheit und füllten das Vakuum“, erklärt Suhail, ein palästinensischer Politologe.

La li-l-Tawteen! – „Nein zur Ansiedlung!“ – lautet die offizielle Parole der libanesischen Politik gegenüber den 350.000 palästinensischen Flüchtlingen. Von libanesischen Politikern hört man immer wieder, daß diese Politik den Interessen der Palästinenser diene, denn eine Ansiedlung führe zu einer „Erledigung“ der Flüchtlingsfrage und damit zum Ende jeder Hoffnung auf eine Rückkehr. „Hinter diesen schönen Worten versteckt sich eine Politik, die darauf abzielt, das Leben der Flüchtlinge so unerträglich wie möglich zu machen und damit so viele wie möglich loszuwerden“, erläutert Suhail. „Man erlaubt uns nicht, unsere Lager, die während des Bürgerkriegs zerstört worden sind, wiederaufzubauen. Es ist uns sogar verwehrt, neue Häuser zu bauen.“

Aber auch die PLO und alle anderen palästinensischen Gruppierungen sind gegen eine Ansiedlung der Palästinenser im Libanon. „Wir fordern, daß die Lebensumstände der Flüchtlinge verbessert werden“, erläutert Suhail. „Aber das widerspricht der Strategie der libanesischen Regierung. Deren Ziel ist es, so wenige Flüchtlinge wie möglich im Land zu haben, wenn die Verhandlungen über die palästinensische Flüchtlingsfrage in ein paar Jahren beginnen. Denn dann kann sie die Forderung stellen, die Verbliebenen auf die anderen arabischen Länder zu verteilen.“