„Jetzt brauchen wir nur noch Liebe“

Beim Wiederaufbau des vom Beben zerstörten Kobe sind die gleichen Kräfte am Werk, die aus Japan nach dem Krieg eine führende Wirtschaftsmacht formten: Bürgersinn und staatliche Lenkung  ■ Aus Kobe Georg Blume

Inmitten der modischen Büroanzüge, bunten Damenkostüme und verbleibenden Firmenuniformen, die sich am Freitag morgen im Bahnhof von Osaka zur Arbeit bewegen, erscheinen die wartenden Fahrgäste am Gleis der Hankyu–Dentetsu-Linie wie Bewohner eines anderen Sterns. Sie tragen Outdoor-Kleidung und schleppen schwere Rucksäcke, ihre Füße stecken in verstaubtem Schuhwerk. Ein alter Schaffner mit grauem Bart, der aus irgendeinem Grund keine Uniformmütze, sondern einen Bauhelm trägt, nimmt das Megaphon in die Hand und verkündet den sonderlichen Fahrgästen ihr Ziel: „Alle Gäste nach Ogi bitte einsteigen.“

Kein Bürokoffer der beliebten italienischen Marke Mandarina Duck, keine Damenhandtasche des populären französischen Fabrikanten Louis Vitton, die gewöhnlich in jedem japanischen Pendlerzug ins Auge fallen, macht sich an diesem Morgen auf den Weg nach Ogi. Vergessen sind die Utensilien der Luxusgesellschaft, als die Bahn die Tunnel von Osaka verläßt und sich beim Blick aus dem Zugfenster die Dimensionen einer anderen Wirklichkeit auftun. Langsam wechseln die Hausdächer ihre Farbe von Schwarz oder Braun zu Plastikblau. Das sind die behelfsmäßigen Planen, mit denen die Bewohner zwischen Osaka und Kobe ihre vom Erdbeben enthaupteten Behausungen vor Regen schützen. Schon am Gleis in Osaka herrschte nicht das gewöhnliche Schweigen. Immer lauter schwatzen die Menschen nun miteinander, heben – ganz ungewöhnlich in Japan – den Finger, um auf etwas Ungewöhnliches aus dem Fenster zu zeigen. Draußen huschen nun Ruinen vorbei.

Künstliche Inseln, die langsam versinken

Die ersten Schritte im erschütterten Land kleben an Asphaltspalten, stochern in Ziegelplatten und freuen sich an jedem Meter unbewegten Grund. Zwei alte Frauen im Wollkimono versperren mit ihren Besen die ohnehin zugeschüttete Bahnhofsgasse. „Wie nach dem Krieg“, spricht die eine plötzlich laut. „Und wir haben wieder alle zu tun“, entgegnet die Nachbarin. „Glück im Unglück!“ pflegen sich die Überlebenden in Japan zu sagen. Besen und Bagger sind überall im Einsatz. Viele Trümmerfelder verwandeln sich beim zweiten Blick in Baustellen. Lastwagen voller Schutt und Asche stehen an Straßenkreuzungen Schlange. Irgendwer in Tokio hat gesagt, daß man mit dem Steinmüll von Kobe eine neue Insel im Meer aufschütten werde, genauso wie jene, die jetzt in der Bucht von Kobe, bebaut mit den teuersten Wolkenkratzern, aufgrund der seit dem Schock eintretenden Erdverflüssigung langsam versinken.

Die umgekippte Hochstraße ist längst abgetragen; an den erhaltenen Pfeilern der Autobahn kleben jetzt Bautrupps mit Kränen und Schweißmaschinen und bringen temporäre Metallstützen an. So kann Japans Hauptverkehrsader, die an dieser Stelle durch Kobe läuft, nach tagelanger Unterbrechung wieder behelfsmäßig pulsieren. Eine einzige Bauwagenkolonne füllt sie an diesem Morgen auf, mit der nun überall die Firmenschilder der japanischen Baugiganten erscheinen, deren Namen in den letzten Jahren immer wieder in Zusammenhang mit den großen Korruptionsskandalen in der Politik aufgetaucht waren. Keine Frage also: Hazama, Shimizu, Tadano – sie alle werden Kobe im Auftrag von Stadt, Präfektur und Zentralregierung wiederaufbauen.

Für die am schwersten von der Katastrophe Betroffenen ist ihr Ende noch längst nicht in Sicht. 37.000 Menschen schreiben sich am Freitag auf Listen für die ersten 2.700 Wohncontainer ein, welche die Zentralregierung in den nächsten Tagen zur Verfügung stellen will. Insgesamt sind 300.000 Menschen, fast ein Viertel der 1,4 Millionen Einwohner von Kobe, obdachlos geworden und finden derzeit nur in Zelten, Schulen oder dem modernen 40stöckigen Rathaus Unterschlupf.

Wie die berühmten Clochards am Bahnhof von Shinjuku in Tokio haben sich die meisten in der Notlage eingerichtet: So ist jedes Deckenlager im Rathaus von Kobe durch sorgfältig geknickte Kartonwände abgeteilt, Schuhe werden säuberlich auf Zeitungspapier aneinandergereiht, und selbst karge Dosenmahlzeiten serviert man recht hübsch auf zweckentfremdeten Gemüsekisten. Ruhe und Gelassenheit, die hier den ganzen Tag über den Erdbebenopfern liegen, schützten sie nicht vor Gefahren: Von einer Grippeepidemie ist die Rede, die besonders die Älteren und Kinder in schweres Fieber wirft. Doch Yoshiteru Maruichi, Sprecher des Bürgermeisters von Kobe beim offenbar planmäßig funktionierenden Krisenzentrum im 16. Stock des Rathauses, sieht die Probleme des Augenblicks ganz anders: „Die Grippe erscheint mir durch die Jahreszeit bedingt. Unsere wichtigste Aufgabe ist es jetzt, die Verkehrsrouten frei zu bekommen, um die Belieferung der Unternehmen zu sichern und das normale wirtschaftliche Leben wieder in Gang zu bringen. Wir überlegen deshalb, ob wir den Individualverkehr erneut einschränken sollen.“

Der Rathaussprecher von Kobe ist ein ehrlicher japanischer Bürokrat. Er konzentriert sich auf die Aufgaben, die den öffentlichen Behörden schon 1945 beim Wiederaufbau des von den Amerikanern zerbombten Inselreichs zufielen. Kaum ein Gedanke also an karitative Maßnahmen für die Bedürftigsten. Zwar erkennt die Stadt Kobe ihre Not und stellt zur Verfügung, was nichts kostet: etwa die eigenen Räumlichkeiten.

Kühl planen die Bürokraten von Kobe

Doch darüber hinaus plant die Stadtbürokratie in kühler Berechnung zwischen den Trümmern, was auch ihrer langfristigen Aufgabe entspricht: eine neue, verbesserte Infrastruktur zu schaffen und den Unternehmen günstige Rahmenbedingungen zu gewähren. Aus Tokio traf vor einigen Tagen eines der wenigen konkreten Hilfsangebote des Wirtschaftsministeriums MITI ein: Auf der verbrannten Stadterde von Kobe soll nun ein zeitweiliger Industriepark für die kleinen und mittleren Gewerbe der Stadt eingerichtet werden. Das MITI will dann dafür sorgen, daß die vom Beben besonders schwer getroffene, aber ohnehin ungeliebte Schuh- und Reisweinindustrie von Kobe die Chance nutzt, auf zukunftsreichere Branchen umzusatteln. Wenn aber Kobe eines noch fernen Tages moderner und dynamischer als je zuvor aus der Katastrophe hervorgeht, so ist jetzt schon spürbar, daß der Wiederaufbau der Stadt weniger von übertriebenen staatlichen Maßnahmen als von deren enger und klarer Begrenzung geprägt sein wird.

„Die Armee sorgt für das Wasser, die Stadt und die Präfektur organisieren die Belieferung mit den Lebensmittelgeschenken der Unternehmen, und den Rest besorgen wir selbst“, brüstet sich Hideo Oushi voller Stolz. Der 36jährige Klempner leitet im Arbeiter- und Angestelltenviertel von Ogi seit zehn Tagen den „Haikyu-sho“. So nennen sich die selbstorganisierten Versorgungseinrichtungen, von denen die Stadt Kobe derzeit an die tausend zählt. Alle Bürger sind auf sie angewiesen: Wenngleich Elektrizität und Telefon in den meisten Wohnungen wieder funktionieren, werden die Arbeiten an Wasser- und Gasleitungen noch Wochen in Anspruch nehmen. Am Haikyu-sho gibt es deshalb Wasser aus den Tankwagen der Armee, die außerdem Brennöl und Holzkohle anschafft, damit – weil es in Japan keine Elektroherde gibt – ein jeder Nachbar sein warmes Essen bekommt. Warme Kleider, Papierwindeln und Medikamente werden umsonst verteilt.

Die ältere Bevölkerung von Kobe hat es ganz besonders schwer getroffen: Fast die Hälfte der über 5.000 Todesopfer des Bebens waren älter als 60 Jahre. Alt sein ist in Japan aufgrund der fehlenden Rentenpflichtversicherung allzuoft gleichbedeutend mit arm sein. Viele der Opfer konnten sich nicht mehr leisten, in eine moderne Apartmentwohnung aus Stahlbeton einzuziehen. Zwar sind diese modernen Arbeiterbehausungen in mehrstöckiger Kastenform oft wenig schön anzusehen, aber sie hielten doch dem Beben stand. Die Toten aber lagen meist unter den Ruinen der alten japanischen Holzhäuser, die überall dort zu Bruchbuden verwitterten, wo das Geld zum planmäßigen Neubau nach 15 oder 20 Jahren fehlte.

„Wir denken jetzt nicht über arm und reich nach. Wir sind doch alle in der gleichen Notsituation“, konstatiert der eifrige Klempner Oushi im Stadtteil Ogi. Was die Überlebenden auf den Trümmern jetzt durch- und mitmachen, mag in ihrem Leben einzigartig bleiben: die spontane Nachbarschaftshilfe, das unmittelbare Miteinander von Alt und Jung, die auf das Lebensnotwendige konzentrierten Tätigkeiten der kleinen Stadtgemeinde von Ogi – das alles treibt den Klempner Oushi trotz der nur zehn Tage zurückliegenden Erdbebenkatastrophe in die Verherrlichung des Menschendaseins: „Die Mahlzeiten, die Medizin und das Wasser sind gut. Jetzt brauchen wir nur noch Liebe füreinander“, freut sich die einfache Seele.

Indessen ist gerade diese Solidarität an den Festen der japanischen Gesellschaft nicht neu. Auch hier stimmt die Parallele zum Wiederaufbau nach dem Krieg. Überraschend ist in Kobe vielleicht nur, daß die moderne Industriegesellschaft, zu der sich Japan erst nach 1945 entwickelte, ein gewisses Grundverständnis der gesellschaftlichen Aufgabenteilung offenbar noch nicht zerstört hat. Niemand in Kobe, erst recht nicht der freiwillige „Sozialarbeiter“ des Haikyu-sho, forderte eine Allzuständigkeit des Staates.

Kein Wunder, daß es nicht zu Plünderungen kam

Über den durchaus denkbaren Schuldzuweisungen zwischen Staat und Bürgern triumphierte schon am ersten Tag nach dem Beben ein weitläufiger Konsens, der den Bürgern alle sozialen Versorgungsaufgaben zusprach und der öffentlichen Hand nur die großen Organisationsaufgaben übertrug. Kein Wunder also, wenn es in Kobe unter der Bevölkerung nicht zu den Rauben und Plünderungen wie noch vor einem Jahr nach dem Beben von Los Angeles kam. Im Gegensatz zur den verunsicherten US-Bürgern waren sich auch noch die Armen in Kobe über ihre soziale Rolle in der Katastrophe im klaren, wußten alle Bürger, wer einem wie zu helfen hatte und wie sich selbst zu helfen war.

Insofern stellen denn die Zerstörungen von Kobe Japans Entwicklung gar nicht in Frage, sondern bestätigen sie auf ebenso brutale wie natürliche Art und Weise. „Es ist alles ganz normal, nur wie nach dem Krieg“, ironisiert Itaru Kikuoka, ein Atomingenieur der Mitsubishi-Werke von Kobe, der sich nun um die planmäßige Erfüllung der AKW-Aufträge seiner Fabrik Sorgen macht.

Damit beschreibt Kikuoka treffend die Situation seiner Stadt. Wer nämlich die gesellschaftlichen Kräfte verstehen lernen will, die aus Japan in den letzten fünfzig Jahren die zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt gemacht haben, findet im Wiederaufbau von Kobe ein ungewöhnlich geschichtsgerechtes Anschauungsobjekt. Nur für die Zukunft mag das wenig heißen: denn die liegt immer noch eine Welt weiter in Osaka, wo sich Bürgersolidarität und staatliche Übersicht heute genauso rar machen wie – sagen wir – in Düsseldorf.