„Zehn Jahre wird es uns noch geben“

■ Der leitende Oberstaatsanwalt der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen, Alfred Streim, über laufende und zukünftige Ermittlungsverfahren gegen Nazi-Verbrecher

taz: Wird es noch Holocaust- Prozesse in Deutschland geben?

Alfred Streim: Wir suchen immer noch Beschuldigte, vor allem, nachdem wir die Akten aus dem Ministerium für Staatssicherheit eingesehen haben. Aber wir wissen nicht, ob diese Beschuldigten überhaupt noch am Leben sind.

Sind die jetzt noch laufenden Ermittlungen alle Ergebnis der Stasiakten-Lektüre?

Nein, es gibt auch noch andere Verfahren. Zum Beispiel haben Staatsanwaltenschaften drei, vier Anklagen erhoben. Allerdings sind noch keine Termine zur Hauptververhandlungen anberaumt worden. Warum, weiß ich nicht. Es könnte sein, daß gerade die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten geprüft wird. Die sind ja alle schon ziemlich alt. Diese Anklagen beruhen auf Erkenntnissen aus der Zeit vor der Wende. Und dann bekommen wir noch ab und zu von der polnischen Hauptkommission Unterlagen, die noch strafrechtlich relevant sind.

Wie viele Vorermittlungsverfahren laufen noch?

Ungefähr 60. Diese Zahl kann sich aber noch erhöhnen, denn bevor wir Vorermittlungsverfahren einleiten, prüfen wir noch die Verfahren auf ihren rechtlichen Stand, ob sie überhaupt noch strafrechtlich relevant sind. Und erst wenn das feststeht und die Besuchulidten noch leben, leiten wir ein Vorermittlungsverfahren ein und geben die Unterlagen an die Staatsanwaltschaft ab.

Wie viele Vorermittlungsverfahren haben Sie in letzter Zeit an die Staatsanwaltschaft abgegeben?

Von den alten Verfahren keines, aber von den neuen Verfahren, die aufgrund der Stasiakten eingeleitet worden sind, haben wir zwei an die Staatsanwaltschaften abgegeben. Beide betreffen Menschen, die von der Staatssicherheit nicht verfolgt worden sind und beide in Deutschland leben.

Was ist mit den Nazi-Verbrechern, die im Ausland leben?

Der wichtigste Fall ist der von Alois Brunner, eines Mitarbeiters von Eichmann, der heute in Syrien lebt. Mehrere Staaten, auch die Bundesrepublik, haben die Auslieferung beantragt, bislang sagen aber die syrischen Behörden, Brunner sei unauffindbar. Nichts zu machen. Wir ermittelt auch in Fällen, bei denen wir nicht einmal wissen, ob sich die Tatverdächtigen in Deutschland oder im Ausland aufhalten. Denken Sie an den Fall Anton Burgers, auch eines Mitarbeiter von Eichmann und unter anderem verantwortlich für das KZ Theresienstadt. Er war Österreicher, nach dem Krieg dort verhaftet, floh dann in die Nähe von München, lebte dort unter falschem Namen und starb letztes Jahr. Erst nach seinem Tod wurde das Geheimnis seiner Identität gelüftet.

Können Sie eine Bilanz aufstellen? In wie vielen Fällen haben Sie in der Zeit der Existenz Ihrer Behörde erfolgreich ermittelt?

Wir hatten insgesamt 7.000 Verfahren. Die Ermittlungen richteten sich hier aber nicht nur gegen Einzelne, sondern auch gegen ganze Einheiten und Dienststellen. Nach den Trennungsbeschlüssen der Staatsanwaltschaften dürfte sich die Zahl auf 25.000 belaufen.

Und wie viele Täter wurden verurteilt?

Ungefähr 2.000. Aber man muß die genannten Zahlen relativieren. 1960 und 1965 stand die Frage der Verjährungsfristen an. Wir mußten gewissermaßen vorsorglich Ermittlungsverfahren eröffnen. In einer Reihe von Fällen, auch gegen Dienststellen, konnte unser Anfangsverdacht nicht erhärtet werden. Nehmen Sie als Beispiel die Massenmorde von Babi Jar. Wir haben damals gegen ein ganzes Bataillon ermittelt, beteiligt war aber nur eine Kompanie dieser Einheit. Dann waren viele Mitglieder dieser Kompanie verstorben oder unauffindbar. Es war immer eine unbefriedigende Aufgabe.

Wie lange wird Ihre Einrichtung noch existieren?

Wir haben jetzt noch 32 Mitarbeiter, darunter acht Staatsanwälte. Wir werden so lange weiterermitteln, bis nach menschlichem Ermessen keiner der Täter mehr am Leben beziehungsweise verhandlungsfähig ist. Ich will mich nicht festlegen, aber sicher zehn Jahre. Das Interview führte Anita Kugler