Der Holocaust als Videothriller

Der Nazi-Krimi „Vaterland“ kam ausgerechnet genau zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz/Birkenau in die deutschen Videotheken  ■ Von Karl Wegmann

Die Frage, die sich alte und neue Nazis immer wieder gerne stellen – Was wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte? – hat der britische Journalist Robert Harris (37) 1992 mit einem finsteren Politkrimi zu beantworten versucht. Sein „Vaterland“ genannter Roman ist ein imaginäres Geschichtspanorama: Berlin 1964. Das Nazi- Reich erstreckt sich von Flandern bis zum Ural. Rußland wurde 1943 besiegt, aber die Wehrmacht ist immer noch in Kämpfe mit sowjetischen Partisanen verwickelt. Die Briten hatten 1944 aufgegeben, Churchill war nach Kanada geflohen. 1946 schließlich Friede mit den USA. Als die Air Force ihre Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwarf, schickte Hitler eine V-3 über den Atlantik, um den Amerikanern zu beweisen, daß er zum atomaren Gegenschlag bereit sei. Harris' monströses Szenarium geht weiter mit einer mysteriösen Mordserie in Berlin. Die Reichshauptstadt bereitet sich gerade auf die Feiern zum 75. Geburtstag des Führers und auf den ersten Besuch eines amerikanischen Präsidenten vor, Joseph Kennedy sen. soll kommen. SS- Sturmbannführer Xaver März wird zunächst beauftragt die Morde aufzuklären. Als er der Wahrheit zu nahekommt, übernimmt die Gestapo den Fall. Der Plot: Sicherheitschef Heydrich läßt nach und nach alle Teilnehmer der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942 umbringen. Bis zum Hitler- Geburtstag soll der gesamte Kreis jener Funktionäre ausgelöscht werden, die damals bei Kaffee und Cognac die „Endlösung“ beschlossen. Die Nazis, so Harris' Fiktion, wollen die letzten Zeugen des Holocaust beseitigen, um ein Bündnis mit den USA nicht zu gefährden.

„Vaterland“ war 1992 ein Weltbestseller. Doch in Deutschland mochte den Thriller niemand herausbringen. 25 Verleger hatten der Reihe nach abgewinkt: Das Buch sei historisch „frivol“ und vor allem „deutschfeindlich“. Der Schweizer Haffmans Verlag brachte den Roman dann hier auf den Markt (bis heute über 140.000 verkaufte Exemplare in Deutschland). Robert Harris – er war BBC- Reporter, politischer Redakteur des Observer, Kolumnist der Sunday Times und hat das britische Standardwerk „Selling Hitler“ über die Affäre um die „Hitler-Tagebücher“ geschrieben – warf den Deutschen daraufhin vor, sie wollten „im Grunde nichts mehr über ihre dunkle Vergangenheit hören“. Das alles paßte natürlich gut zu der Stimmung, die Anfang der Neunziger auf der britischen Insel herrschte: Die Angst vor einem von Deutschland beherrschten Europa ging um. Mit seiner Nazi- Story appellierte Harris an diese Ängste des angelsächsischen Publikums und landete mit der Mischung aus Fakten und Fiktion einen kalkulierten Bestseller. Gestern nun, genau zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz/Birkenau, brachte Warner Home Video die Verfilmung des Nazi-Gruselstücks in die deutschen Videotheken. Der Film war für den US-Kabel-Kanal HBO von dem britischen Regisseur Christopher Menaul gedreht worden. Das Drehbuch schrieben Stanley Weiser („Wall Street“) und Ron Hutchinson („The Simon Wiesenthal Story“). Hutchinson betonte, daß „die Verfilmung düsterer als der Roman ist“. Das ist Blödsinn. Das Gegenteil ist richtig. Die Adaption gibt sich betont deutsch- und vor allem amerikafreundlich.

Ein freundlicher, frommer Nazi

Der SS-Sturmbannführer März wird von dem in Holland geborenen Rutger Hauer (groß, blond, blauäugig) dargestellt. Als sein kleiner Sohn das Tischgebet mit den Worten beginnt, „Führer, mein Führer, der du mir vom Herrn gesandt wurdest, beschütze und erhalte mich, solange ich lebe“, unterbricht der Vater und bittet ihn doch das andere Gebet („Lieber Gott, wir sagen Dank für Speis' und Trank“) zu sprechen. Danach zieht März die schwarze Uniform an und setzte die Mütze mit dem Totenkopf auf. Ein menschlicher, ein netter SS-Mann, suggeriert die Szene, und schon haben wir den positiven Helden, die Identifikationsfigur. Auch die Bilder der Reichshauptstadt mit den gewaltigen Bauten Albert Speers wirken nicht bedrohlich, ein bißchen kalt vielleicht, sonst normales Großstadtleben, an einer Wand hängt gar ein Beatles-Plakat.

Mindestens zwei große logische Fehler begeht Harris in seiner Geschichte, und sie finden sich auch im Film wieder. Erstens: Wenn Heydrich alle Teilnehmer der Wannsee-Konferenz hätte ermorden lassen, dann hätte er die Leichen bestimmt nicht irgendwo in der Landschaft herumliegenlassen. Zweitens: Schon im Juni 1942 war in der New York Times in einem Artikel zu lesen, Deutschland verfolge die Juden nicht mehr, sondern rotte sie systematisch aus – von zwei Millionen ermordeten Juden war die Rede. Wenn also die amerikanische Öffentlichkeit Bescheid wußte, ist der Plot nicht schlüssig. Daß kein Deutscher die Wahrheit kannte, soweit mochte selbst Harris nicht gehen. Als er von einem Kollegen zu hören bekommt, „ich habe von all dem nichts gewußt“, läßt er März sagen: „Natürlich haben Sie's gewußt! Sie wußten es jedesmal, wenn jemand einen Witz über In-den-Osten-gehen gemacht hat, jedesmal, wenn Sie eine Mutter ihrem Kind sagen hörten, es solle sich gut benehmen, sonst müsse man durch den Schornstein gehen. Wir wußten es, als wir ihre Häuser bezogen, als wir ihr Eigentum übernahmen, ihre Arbeitsplätze. Wir wußten es, aber wir kannten die Tatsachen nicht.“ Im Film kommt dieser Monolog nicht vor. Hier sind alle, auch der SS-Mann völlig ahnungslos, selbst als er die Fotos von Leichenbergen in einem Konzentrationslager sieht, die ihm eine amerikanische Journalistin (Miranda Richardson) zeigt, hält er sie zunächst für Fälschungen, dann wird er ein bißchen theatralisch: „Ich bin ein loyaler Sohn meines Vaterlandes – ich habe mein Leben lang Mördern gedient.“

Im Roman zitiert der Autor aus einem Telegramm vom 18. Oktober 1938, daß der deutsche Botschafter in London, Herbert von Dirksen, an Staatssekretär von Weizsäcker schickte. Es ging um eine Unterredung, die von Dirksen mit US-Botschafter Kennedy (der in der Fiktion Präsident ist) geführt hatte: „Wie bei früheren Unterhaltungen, so erwähnte Kennedy auch heute, daß in den Vereinigten Staaten sehr starke antisemitische Tendenzen bestünden und daß weite Teile der Bevölkerung für die deutsche Haltung gegenüber den Juden Verständnis hätten ... Nach seiner ganzen Persönlichkeit glaube ich, daß er mit dem Führer gut harmonisieren würde.“ (Aus: „Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918-1945“, Band I, Serie des Instituts für Zeitgeschichte, München). Nichts davon im Film. Der alte Kennedy bleibt sauber.

Schluß komplett umgeschrieben

Den Schluß haben sie für das Lichtspiel komplett umgeschrieben. Während Harris, die Frage offen läßt, ob die Protokolle der Wannsee-Konferenz wirklich ins Ausland geschmuggelt werden können, haben sie sich im Film für ein Hollywood-Ende entschieden: Die amerikanische Journalistin und ein Kollege übergeben Präsident Kennedy, eine Minute bevor er Hitler trifft, die Dokumente. Kennedy sieht die Fotos, dreht sofort um und reist ab. Lapidarer Schlußsatz: „Ohne die Allianz mit Amerika brach Hitlers Germanien zusammen.“ Soll wohl heißen, die Nazis hätten ruhig zwanzig Jahre lang nach einem gewonnenen Weltkrieg ganz Europa beherrschen können, zu guter Letzt hätten die Amerikaner doch gesiegt. Der Holocaust? War nicht zu verhindern, niemand, außer der Mörderbande an der Spitze, hat etwas gewußt. Der Film „Vaterland“ (Untertitel: „20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg: Der futuristische Thriller über ein grausames Geheimnis“) wurde von der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) ab 16 Jahren freigegeben.

Christopher Menaul: „Vaterland“, mit Rutger Hauer, Miranda Richardson u.a.; Warner Home Video, 105 Min.

Robert Harris: „Vaterland“, Haffmans Verlag, 384 Seiten, geb., 24,80 DM