■ Auszüge eines Briefes des PDS-Bundestagsabgeordneten Gerhard Zwerenz an den Parteivorstand der PDS
: Ach, wir Sozialisten

Lieber Wolfgang Gehrcke,

Ich bin nicht Mitglied der PDS, und es widerstrebt mir, 1995 in eine Diskussion einzutreten, aus der ich 1957 ausgeschlossen worden bin. Ich äußere mich deshalb nur mit einigen Anregungen, die sich ein so lange Außenstehender vielleicht erlauben darf.

Von 57 bis 89 zählte ich mich zum offenen Kreis der Arthur Koestler, Gustav Regler, Plivier, Manès Sperber, Ludwig Marcuse, Robert Neumann, Alfred Kantorowicz, Heinz Brandt ... das sind fast alles „exkommunistische Antikommunisten“, die gestern und heute von DKP, SED, PDS noch weit entfernt und unwahrgenommen blieben und bleiben. Meine Position ist da nicht veränderbar.

Bei manchen Altgenossen gehen zwei Dinge durcheinander. Das eine ist die Bewertung ihres Lebens, das von den westlichen Siegern diffamiert wird, wogegen sie unserer Solidarität bedürfen. Kein Westler mit Globke und Gehlen im Gepäck besitzt das Recht, einen Kommunisten anzuklagen. Das andere ist die eigene, analytisch-selbstkritische Bewertung des vergangenen Realsozialismus. Wird da nicht radikal mit der Vergangenheit gebrochen, schrumpft die PDS zur statischen Regionalpartei im Osten und zum Sammelbecken von Sektierern im Westen ein.

Die Überwindung des fatalen SED-Erbes allein genügt aber nicht, es müßte ein sinnlicher Aufbruch in neue Wertsysteme sichtbar werden: Liberalität statt Radikalität, Humanität statt Klassenkampf, Erweiterung des Marxismus statt Statik oder Verengung. Das geht bis zur Marxschen Revolutionstheorie, wo die Analyse in Wunschdenken umschlägt, wenn die Klassenkämpfe in Frankreich überinterpretiert werden und die fatale Formel von der „Diktatur des Proletariats“ entsteht, dieser „Übergangszeit“, deren zeitliche Nichtbegrenzung Lenin und Stalin dazu verführte, den Sozialismus als ewige Diktatur einzurichten, womit sie die Untergangsursachen schon in die sozialistischen Anfänge einfügten.

Menschen, denen die Freiheit so statuarisch wie repressiv vorenthalten wird, haben nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Konterrevolution. Deshalb war eben das schmähliche Ende des Realsozialismus nur das vorausberechenbare Resultat seiner Anfänge. Seine Geschichte wurde zur Tragödie der Arbeiterbewegung, wobei zum Schluß hin die tragikomischen Züge überhandnahmen, bis die Weltrevolution ganz zur Farce verkam.

Der italienische linke Autor Paolo Flores d'Arcais spricht von einer westlichen Sonnenfinsternis. Die Anspielung auf den gleichnamigen Roman von Arthur Koestler, in dem die östliche Sonnenfinsternis frühzeitig signalisiert worden ist, läßt uns fragen, wer von den Genossen dieses Schlüssel- Buch jemals gelesen und berücksichtigt hat. Erst wenn dies geschehen ist und also Abschied von der Diktatur genommen wurde, können wir auch die Gründe für die Sonnenfinsternis der westlichen Welt begreifen, wo die Demokratie zur bloßen Herrschaftsform von Staatsmacht und Staatsohnmacht verkommt und damit ihre Legitimität einbüßt.

Genau dies könnte der Ausgangspunkt der PDS sein, wenn sie „links von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen“ positioniert wird. Gefordert sind heute weniger sozialistische Programme als sozialistische Haltungen. Will die PDS im Westen erstarken, ist sie auf die Vielfalt derer angewiesen, deren Charakterstärke und Liberalität anziehend wirkt, während linkes Sektierertum nur abschreckt. Dabei kann der östliche Transformationsprozeß von der SED zur PDS als Vorbild dienen, wenn aus dem Schmerz der Niederlage genügend Veränderungsenergien gewonnen werden. Der konsequente Bruch mit der diktatorischen Vergangenheit ist es, der die PDS optimal modernisierte und ihr im Westen das Stigma des Verlierers nehmen könnte.

Ich löste bei manchen Genossen Befremden aus, als ich mich einen Antikommunisten nannte. Meine vorherige Auskunft, der Antikommunismus sei hinfällig geworden mit dem Verschwinden der kommunistischen Staaten und Parteien, hatte sich aber als voreilig erwiesen. Gibt es in der PDS eine Kommunistische Plattform, ist nicht einzusehen, warum es keine Antikommunistische Plattform geben sollte. Wobei ich die Auskunft, man verstehe „Kommunismus“ doch nur im ursprünglichen Marxschen Sinne, für Rabulistik halte, denn Marx selbst dementierte den ursprünglich emanzipatorischen Sinngehalt des Begriffs in seinen späteren Schriften durch die Verlagerung auf die Notwenigkeit der „Diktatur des Proletariats“. Dieser revolutionäre Übergang wurde durch die Geschichte soeben mörderisch-selbstmörderisch widerlegt.

Die Folgen sind furchtbar. Mit dem Sieg des Westens über den Osten entstand die Weltkatastrophe von heute. [Es haben sich auch schon Systeme totgesiegt! d. säzzer] Es gibt keine Revolutionen mehr, nur noch Palastrevolten und Kriege. Dabei stehen wir erst am Anfang des Zeitalters der Kriege, denn die sozialistische Niederlage führt direkt in die neue Barbarei, wie Rosa Luxemburg prophezeite.

Das Kapitalsystem ist auf dem direkten Wege nicht abschaffbar. Ob es auf demokratischem Wege abschaffbar ist, kann nicht vorausgesagt werden. Auch eine Vermenschlichung kann nicht garantiert, allerdings auch nicht ausgeschlossen werden. Nachdem der eine Versuch mißglückte, gibt es keine andere Wahl als die zwischen der Selbstaufgabe der Linken und dem Kampf um Mehrheiten: Nach dem Untergang des Spartacus bleibt nur die Entscheidung zwischen Hieronymus im Gehäuse und dem Genossen Mandela.

Daß die PDS dabei die Feindseligkeit aller Parteien und Medien auf sich zieht, gründet nur teilweise in ihrer Herkunft aus der SED, mit der die Kalten Krieger früher gut zurechtgekommen sind. Die wahre Gefahr liegt im pluralistischen Transformationsprozeß. Je konsequenter die PDS eine andere Partei als die SED wird, desto wirksamer kann sie werden. Diese Modernisierung aber darf nicht einfach in obsolete westliche Zustände führen, die schon aus der SPD eine synthetische CDU zu machen drohen.

Wer aus der Niederlage des Moskauer Modells den Schluß zieht, der Westen sei der Sieger von Dauer und überdies moralisch gerechtfertigt, der lügt sich um ein Jahrtausend christlicher Weltunterdrückung ebenso herum wie um den kapitalistischen Ausbeutungs- Charakter der „führenden Industrienationen“, von denen die Schöpfung nicht bewahrt, sondern zerstört wird.

Die deutsche Linke leidet an ihren Erfahrungen ewiger Niederlagen. Besonders die Kommunisten sind traumatisiert. Ihre DDR als Versuch einer Alternative, wo sie verfolgungsfrei bleiben wollten, aber ihrerseits zu Verfolgern wurden, sollte den ewigen Niederlagen der Linken ein Ende setzen. Das Experiment mißlang. So entstand ein neues Trauma, dem zu entrinnen schwache, verwirrte Geister zu Stalin und Ulbricht zurückstreben. Die PDS sollte sich von solchen Rückfällen freihalten.

Die Linke kann aus ihrer Frustration herausfinden, wenn sie den heute vorherrschenden Geschichtslügen begegnet. Dazu gehört die Kenntnis der Oppositionsbewegungen von Trotzki über Koestler bis Walter Janka und Heinz Brandt. Der verengte Horizont der PDS reicht heute nur vom disziplinierten SED-Genossen bis zu den parteilos gehorsamen DDR-Bürgern! Ich weiß noch genau, wie ungeduldig ich Anfang der achtziger Jahre, als Solidarność in Polen wirkte, auf die dumpfe, demütige DDR blickte, wo die Dissidenten sich erst spät unterm Kirchendach hervorwagten, als es nach Gorbatschows Machtantritt nicht mehr den Kopf kostete.

Ich fasse zusammen: Wer die Welt so egozentrisch und anarchisch transformierte, der hat die blutigen Krisenfolgen auch zu verantworten. Wir als deutsche Linke sind daran unschuldig. Ausgenommen diejenigen Genossen, die in der DDR Macht ausübten oder ihr führend zuarbeiteten und damit den Untergang von 1989 vorbereiteten und geschehen ließen, weil ihre Theorie falsch, ihr Geist matt und ihre Moral gespalten war. So wie ihr Staat nicht halten konnte, was er großmäulig und bis an die Zähne bewaffnet versprach: Sozialismus, Humanität und geschichtliche Dauer.

Die PDS ist im Osten eine auch intellektuell geprägte populäre und aktive Partei. Nicht so im Westen. Volkspartei kann sie hier nicht werden, wohl aber der innovative Erbe einer Arbeiterbewegung, von der im Moment nicht mehr sicher ist, ob es sie noch gibt. Doch weshalb sollte sie und etwas ganz Neues dazu nicht ständig wieder erfunden werden können? Gegenüber der Geschichte des Christentums sind wir Sozialisten ja kleine, kurzatmige Anfänger, die den langen Atem noch lernen können. Im übrigen brauchen wir ja keine große Volkspartei zu sein, eine ausstrahlende Mitwirkung sollte genügen.

Bleiben wir bescheiden, das macht glücklicher als Großmannssüchte.

Mit guten Grüßen Gerhard Zwerenz