Und bloß nicht ins Krankenhaus

Illegale sind ÜberlebenskünstlerInnen: Sie schlüpfen der Obrigkeit durch die Maschen und knüpfen ihre eigenen Netze. Von der Suche nach Schlafplätzen, guten Freunden, Arbeit und – Ruhe  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Höflich erhebt sich der kleine, schmale Herr. Zur Begrüßung rückt er der Gesprächspartnerin den Stuhl zurecht. Man könnte ihn für einen asiatischen Geschäftsmann halten, für einen Messebesucher vielleicht oder einen Berlin- Touristen. Mahen Kumar ist nichts dergleichen. Streng genommen ist er nicht einmal existent. Er taucht in keinem Melderegister auf. Sein Name steht auf keinem Klingelschild und in keinem Paß. Er hat kein Bankkonto und keine Steuernummer. Ginge es nach den deutschen Behörden, es dürfte ihn gar nicht geben. Aber Mahen Kumar existiert nun einmal, nicht gerade gut, aber auch nicht so schlecht – Mahen Kumar lebt illegal in Deutschland.

Vor dreizehn Jahren ist der staatenlose Tamile nach Deutschland geflüchtet. Hat Frau und Kinder und einen gutbezahlten Posten zurückgelassen und um Asyl ersucht in Berlin. Hier ist er schnell in eine „dumme Geschichte“ geschliddert. Er hat für Landsleute gedolmetscht, die Rauschgift verschoben. Das brachte fünf Jahre Knast. Nach der Entlassung wanderte Mahen Kumar gleich in Abschiebehaft. Doch abschieben konnte man ihn nicht, die Behörden Sri Lankas verweigerten ihm den Paß. Also ließ man ihn frei – mit der Auflage, sich regelmäßig bei der Ausländerpolizei zu melden. Woche für Woche mußte er sich schon nachts in die Warteschlange einreihen, vier Stunden anstehen für einen Stempel und jede Woche neu um Sozialhilfe betteln. Fünf Jahre machte Mahen Kumar die Schikanen mit, dann tauchte er ab.

Weil man rechtlos ist, ist man gesetzestreu

Seit eineinhalb Jahren lebt Kumar „schwarz“, und „dieses Leben“, sagt der 44jährige heute, „ist besser, als das was ich vorher hatte. Ich nehme kein Geld vom Staat, ich muß nicht betteln“. Seit einem Jahr hat der Mann aus Sri Lanka sogar eine Wohnung – als illegaler Untermieter auf Zeit einer längst ausgezogenen deutschen Bekannten. Auf dem Arbeitsmarkt hat sich der ehemalige Geschäftsmann als Mädchen für alles verdingt, Klos hat er geputzt und Teller gewaschen. Mittlerweile hat er einen festen Job. Für zwölf Mark die Stunde arbeitet er als Küchenhilfe in einem Restaurant. Zwölf Mark, das ist weniger als Deutsche oder „legale“ Ausländer verdienen, aber immerhin, die Stelle ist sicher und „die deutschen Chefs sind sehr liebe Leute“. Kumar ist der einzige Illegale in diesem Restaurant, fast schon eine Ausnahme in Berlin. Er weiß von Cafes, in bester Citylage, „da sind von 28 Leuten 22 nicht legal“.

Mahen Kumar hat sich in der Illegalität arrangiert: er hat FreundInnen, er geht ins Kino, ins Theater, in die Kneipe. Natürlich hat er Angst – Angst erwischt zu werden von der Ausländerpolizei, Angst durch einen dummen Zufall in die Fänge der Behörden zu geraten. Aber als Illegaler lernt man Risikovermeidungsstrategien: Die Post läßt man an eine andere Adresse schicken. Am Telefon meldet man sich nur mit „Hallo“. Polizeiträchtige Orte weiß man zu umfahren. Wenn man als „Scheißausländer“ beschimpft wird, sucht man wortlos das Weite, wenn die Nachbarn nachts die Stereoanlage aufdrehen, nimmt man Oropax. Man verhält sich ruhig als Illegaler, und gerade weil man rechtlos ist, ist man gesetzestreu: nie schwarzfahren, nie bei Rot über die Straße gehen, nie etwas mitgehen lassen im Supermarkt.

Mundpropaganda und ein Netz von „legalen“ Kontakten helfen, das mühsame Leben ohne Papiere zu bewältigen: Neulich, als Kumars Augen nicht mehr richtig mitmachen wollten, sprang ein Landsmann ein mit seinem Krankenschein für das Brillenrezept. Illegale, die solche Möglichkeiten nicht haben, verschleppen auch lebensbedrohliche Krankheiten. Eine Einweisung ins Krankenhaus wäre das Ende der illegalen Existenz. Mahen Kumar hatte Glück – und er besitzt jene Fähigkeit, die Experten als „Markenzeichen“ der Illegalen sehen: kreativ und unter schwierigen Bedingungen zu überleben.

Es gibt keine Statistiken oder Untersuchungen über diese Überlebenskünstler in der Bundesrepublik. Das liegt in der Natur der Sache – und im Interesse der deutschen Politik. „Das Thema Illegale“, beobachtet die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John, „ist noch nicht einmal ein Tabu. Es interessiert einfach nicht“. Würde die Politik es zur Kenntnis nehmen, die eigene Ausländerpolitik läge als Mogelpackung auf dem Tisch. Denn die Bundesrepublik erlebt eine Einwanderung auf Filzpantinen. Das Land, das sich mit Gesetzen und elektronischer Grenzsicherung gegen jeden Zuzug wappnet und stolz den Rückgang der Asylgesuche präsentiert, verzeichnet ein faktisches Bevölkerungswachstum der besonderen Art. Seit das neue Asylrecht einen legalen Aufenthaltsstatus fast aussichtslos macht, suchen Menschen Zuflucht in der Illegalität. Und seit deutsche Behörden rigoros auf Abschiebung drängen, flüchtet sich fast die Hälfte der Ausreisepflichtigen in den Untergrund. Und weil im Osten Europas ganze Wirtschaftssysteme kollabieren, holen sich immer mehr Menschen die Entwicklungshilfe auf die ganz individuelle, direkte Art.

„Illegal lebende Ausländer hat es in Deutschland schon immer gegeben“, urteilt Barbara John, „aber heute hat das ganz andere Dimensionen“. Dimensionen, die erstaunen: Allein in Berlin, so schätzen ernstzunehmende Experten, leben rund 100.000 Ausländer in der Illegalität – ohne großartig aufzufallen und ohne dem Staat auf der Tasche zu liegen. Die Anonymität der Großstadt und das Netzwerk von ausländischen Communities wirken wie ein Magnet – besonders Richtung Osten: Allein aus der ehemaligen Sowjetunion, so Insider-Schätzungen, leben 10- bis 15.000 „Illegale“ in Berlin.

Aber was heißt illegal? Illegalität kennt viele Formen und Zwischentöne: Einige kommen quartalsweise für ein Vierteljahr, um mit dem Putzjob die Familie zu Hause zu ernähren. Andere wandern seit Jahren von Baustelle zu Baustelle für einen Dumping- Lohn. Da sind die jungen Mädchen, mit plumpen Heiratsversprechen nach Deutschland gelotst, die den beschämenden Absprung in die Heimat nicht wagen. Da sind die Studenten aus Lateinamerika, einst in Moskau oder Kiew mit Stipendien gut versorgt, die in Berlin für die horrend gestiegenen Studiengebühren ackern. Und ein Mädchen wie Maria gehört zur Gemeinde der Illegalen, für die Deutschland das wackelige Sprungbrett in ein eigenständiges Leben ist.

Mit 19 Jahren hat sich Maria aus der polnischen Kleinstadt aufgemacht. Sie kam als Au-pair Mädchen nach Berlin, und als diese Zeit abgelaufen war, ist sie einfach geblieben. Ausgestattet mit einem dreimonatigen Touristenvisum lebt Maria schon seit eineinhalb Jahren „schwarz“. Zuhause in Polen – was hätte sie da machen können? Jahrelang auf einen Studienplatz warten, den sie nicht finanzieren kann? Den arbeitslosen Eltern auf der Tasche liegen, weil es in ihrer Heimatstadt für sie keine Arbeit gibt? „Ich würde ‘ne Macke kriegen, wenn ich da untätig auf dem Hintern sitzen müßte“, sagt Maria, „Ich will etwas erreichen im Leben“.

Maria kämpft für dieses eigene Leben: Als sie vor drei Jahren kam, konnte sie kein Wort Deutsch. Heute spricht sie fast akzentfrei. Die erste Zeit ist sie von Zimmer zu Zimmer gezogen. Jetzt lebt sie als „Cousine aus Westdeutschland“ in der Wohnung von deutschen Bekannten. Anfangs hat sie in einem Cafe serviert, doch nach ein paar Monaten war sie „mit den Nerven fertig“. Immer diese Angst, entdeckt zu werden. Immer diese Fragen der Gäste: „Ja, woher kommen Sie denn?“ Jetzt arbeitet Maria im nicht-öffentlichen, geschützten Raum: als Kindermädchen und Gelegenheitsputzfrau bei deutschen Familien. Auf rund 2.000 Mark im Monat kommt sie damit. Nicht gerade wenig Geld für eine 22jährige, doch ein Großteil davon geht für die Sprachschule und die Geldsendungen an die Eltern drauf. Die drängeln: „Was ist das für ein Leben, das du führst. Komm zurück“.

Maria spürt, wie sich der Status der Illegalitiät auf die Psyche legt: „Es fällt mir schwer, Leuten zu trauen. Ohne Papiere können sie dich übers Ohr hauen, und du kannst dich nicht wehren“. Manchmal, wenn sie die Gedanken an ihre unsichere Zukunft quälen, hilft sie dem Schlaf mit Tabletten nach.

„Die Leute“, sagt eine Sozialarbeiterin, die – wie fast alle bei diesem Thema – namentlich nicht genannt werden will, „die Leute gehen vor die Hunde“. Viele haben permanente Schlafprobleme und verlieren dadurch ihre wackligen Jobs. Einige wandern täglich zu einer anderen Bettstelle, begeben sich in Abhängigkeiten von kriminellen Arbeitsvermittlern oder klammern sich an erpresserische Heiratsversprechen. So profane Alltagsverrichtungen wie das Wäschewaschen und Kleidungwechseln werden zum Problem. Doch einige Gruppen haben inzwischen auch gut funktionierende Geflechte und Wirtschaftskreisläufe aufgebaut. Die illegalen Russen beispielsweise, so erzählt man sich, bewegen sich nur innerhalb der eigenen community: Legal in Berlin lebende RussInnen gehen zu ihrem „illegalen“ Friseur, zur „illegalen“ Masseuse oder holen den „illegalen“ Automonteur.

Der Paß liegt bei der Polizei: Zur Abschiebung

Andere „Illgale“ stranden irgendwann bei einer der Beratungsstellen, die – immer im Spannungsfeld der geltenden Gesetze – sich um notdürftige Hilfen bemühen: um Schlafplätze in einer Notunterkunft, um Ärzte, die ohne Ansehen von Person und Papieren gratis behandeln, oder um eine Rückfahrkarte in die Heimat.

Meni aus dem Kosovo ist 1992 vor dem Militärdienst nach Deutschland geflüchtet. Als Bürgerkriegsflüchtling hatte er eine Duldung hier, aber dann packte ihn das Heimweh und die Sorge um die Familie zu Hause. Meni fuhr sie besuchen und verwirkte damit seine Duldung in Berlin. Seit September lebt er deshalb illegal hier. Er schlägt sich mit Baustellenjobs durch und macht in Kneipen Musik. Doch das reicht gerade für die Sprachschule. Das Geld zum Leben stecken ihm Verwandte zu. Ohne daß sie es wissen, schreibt Meni jede Mark auf. Er will sie zurückzahlen. Meni büffelt wie ein Verrückter – er will endlich studieren, dafür muß er eine Deutschprüfung ablegen. Ob er die schafft? Er weiß es nicht.

Eigentlich hat er das Gefühl, alles sei nur verlorene Zeit für ihn. Mahen Kumar träumt davon, eines Tages nach Indien zu gehen. Doch um dorthin zu gelangen, braucht er einen Paß. Den gibt es inzwischen sogar: bei der Ausländerpolizei. Wenn man Kumar erwischt, liegt er dort für seine Abschiebung bereit. Maria möchte studieren in Deutschland und ein „normales Leben führen mit Arbeit, mit Familie und mit gültigen Papieren“. Einen kleinen, heimlichen Schritt in die Legalität hat sie geschafft: Ihr Name taucht jetzt im Berliner Telefonbuch auf. Meni hofft, daß der Krieg in seiner Heimat endlich aufhört und er einen Studienplatz kriegt, ganz legal. Fragt man ihn, wie es einem geht als Illegaler in Deutschland, zuckt er die Achseln: „Geht“.