Tschuwaschien, Tuwa und Tschetschenien

Bis zum Einmarsch der russischen Armee hatte das Unabhängigkeitsstreben der Tschetschenen keine Ausstrahlung auf die anderen Ethnien der Russischen Föderation / Doch nun nehmen die zentrifugalen Kräfte wieder zu  ■ Von Christoph Mick

Spätestens seit Beginn des russischen Einmarsches in Tschetschenien stellt sich die westliche Öffentlichkeit zwei Fragen: Welche Bedeutung hat der Krieg im Kaukasus für den Vielvölkerstaat Rußland? Und: Folgt dem Untergang der Sowjetunion jetzt das Auseinanderbrechen Rußlands?

Auf den ersten Blick ähnelt die Invasion in Tschetschenien den Gewaltmaßnahmen sowjetischer Spezialeinheiten im Baltikum in der Endphase der Perestroika. Damals versuchte Moskau die abtrünnigen baltischen Republiken gewaltsam zum Verbleib in der Union zu zwingen. Heute begründen Jelzin und seine Anhänger den Einmarsch in Tschetschenien mit der Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens im November 1991. Demzufolge geht es darum, die territoriale Integrität Rußlands zu sichern und der russischen Verfassung Geltung zu verschaffen.

Doch sind die Unterschiede zwischen der Situation der Sowjetunion 1990/91 und der heutigen Lage Rußlands größer als die Gemeinsamkeiten. Die Unionsrepubliken (wie die Ukraine, Estland usw.) hatten das verfassungsmäßige Recht, aus der Sowjetunion auszutreten. Wenngleich dieses Recht bis weit in die achtziger Jahre hinein fiktiv war, bot es den Unionsrepubliken doch einen wichtigen Ansatzpunkt für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen.

Im Unterschied dazu hatten die früheren Autonomen Sozialistischen Sowjetrepubliken, die heutigen Republiken innerhalb der Russischen Förderation, in der alten sozialistischen Verfassung kein Austrittsrecht. Auch die neue russische Verfassung gewährt den Republiken dieses Recht nicht. Gleichgültig welche Verfassung man somit auf die Tschetschenische Republik anwendet, die Unabhängigkeitserklärung vom November 1991 wird dadurch juristisch nicht gedeckt. Völkerrechtlich gehört Tschetschenien zur Russischen Föderation.

Hier greift auch das von der russischen Regierung anerkannte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ nicht. „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ heißt nicht, daß jede Ethnie das Recht besitzt, einen eigenen unabhängigen Staat auszurufen. Vor dem Hintergrund der ethnischen Gemengelage gerade im Nordkaukasus ist die Anwendung eines so verstandenen „Selbstbestimmungsrechts“ verheerend. Es genügt hier, darauf hinzuweisen, daß in der Nachbarrepublik Tschetscheniens, Dagestan, mindestens 30 Ethnien leben.

Auch nationalitätenpolitisch sind die Unterschiede zwischen der früheren Sowjetunion und dem heutigen Rußland gravierend. In der Sowjetunion stellten die Russen nur etwa die Hälfte der Bevölkerung, in der Russischen Föderation dagegen über 80 Prozent. In Rußland haben die Titularnationen nur in Tschuwaschien, Tuwa und Tschetschenien deutliche (Zweidrittel-)Mehrheiten. Der Unabhängigkeitskurs Tschetscheniens konnte nur wegen des hohen tschetschenischen Bevölkerungsanteils von etwa 75 Prozent diese Dynamik gewinnen. Tschetschenien stellt insofern einen Sonderfall dar, der nicht ohne weiteres auf die anderen russischen Republiken übertragen werden kann.

Allenfalls die Republik Tuwa könnte einen ähnlichen Weg nehmen. Tuwa wurde der UdSSR erst 1944 einverleibt und ist seit Ende der achtziger Jahre eine ethnische Krisenregion. Nach Übergriffen der einheimischen Bevölkerung hat ein Großteil der Russen das Land verlassen. Das tuwinische Parlament hat die Souveränität Tuwas (nicht die Unabhängigkeit) und den Vorrang der tuwinischen Verfassung vor der Verfassung Rußlands erklärt. Eine weitere Gemeinsamkeit mit Tschetschenien ist die Tatsache, daß Tuwa nicht von russischem Gebiet eingeschlossen ist, sondern eine Grenzregion ist.

Die Befürworter der Invasion behaupten, daß Tschetschenien die Einheit Rußlands gefährde. Von Tschetschenien seien Impulse auf andere Republiken ausgegangen. Dieses Argument greift nicht. Die Ausstrahlungskraft des tschetschenischen Unabhängigkeitskurses blieb gering. In den drei Jahren seit der Unabhängigkeitserklärung hatte das tschetschenische Beispiel die zentrifugalen Tendenzen in anderen Republiken nicht beschleunigt. Im Gegenteil: Die innertschetschenische Opposition gegen das diktatorische Regime Präsident Dudajews war 1994 gewachsen. Die Trennung von Rußland hatte das Land in eine schwere wirtschaftliche Krise gestürzt.

Der Vertrag mit Tatarstan als Modell?

Vorbild für einen erfolgreichen Unabhängigkeitskurs konnte Tschetschenien somit nicht sein. Im Gegensatz zur UdSSR 1990/91, in der die zentrifugalen Kräfte immer stärker wurden, gewannen in Rußland seit dem gescheiterten Septemberputsch 1993 die zentripetalen Kräfte die Oberhand. Die Republiken und Regionen hatten zuvor den Machtkampf zwischen Jelzin und dem Obersten Sowjet zur einseitigen Erweiterung ihrer Rechte ausgenutzt. Nach dem Sieg Jelzins neigte sich die Waagschale wieder auf die Seite des Zentrums. Es bestand im Dezember somit keine Notwendigkeit, in Tschetschenien militärisch einzugreifen, um einen unmittelbar drohenden „Zerfall Rußlands“ abzuwenden.

Die vorsichtige Politik Tatarstans hatte eine viel stärkere Vorbildfunktion als Dudajews Konfrontationskurs. Tatarstan entspricht mehr als Tschetschenien dem Normalfall einer Republik der Russischen Förderation. Tatarstan liegt mitten in Rußland, und die Tataren stellen dort nur etwa 49 Prozent der Bevölkerung. Allein der hohe russische Bevölkerungsanteil von 43 Prozent setzt der Politik der Führung Tatarstans Grenzen. Tatarstan hatte ebenso wie Tschetschenien seine Unterschrift unter den Föderationsvertrag von 1992 verweigert. Sowohl das Verfassungsreferendum als auch die russischen Parlamentswahlen waren im Dezember 1993 von einem Großteil der Bevölkerung boykottiert worden.

Statt dessen wurde eine tatarstanische Verfassung angenommen, die der Verfassung der Föderation in zentralen Punkten widersprach. Nach langwierigen Verhandlungen kamen Tatarstan und Moskau im Februar 1994 zu einer Übereinkunft. Sie schlossen einen Vertrag über die Abgrenzung der beiderseitigen Befugnisse. Tatarstan erhielt auf wirtschaftlichem Gebiet große Freiheiten, darf Verträge mit ausländischen Staaten abschließen, an der Arbeit internationaler Organisationen teilnehmen und entscheidet selbst über Fragen der Staatsbürgerschaft. Der Vertrag ließ allerdings viele strittige Fragen offen. Unklar ist, welche Verfassung und welche Gesetze im Konfliktfall Vorrang haben. Doch die Interpretierbarkeit der Regelungen ist zugleich auch ihre große Stärke.

Nach dem Arrangement mit Tatarstan blieben nur noch die Beziehungen zu Tschetschenien ungeregelt. Der Druck auf Dudajew wurde im Frühjahr und Sommer 1994 immer stärker. Der stellvertretende russische Ministerpräsident Sergej Schachraj bezeichnete im Februar 1994 die Regelung der Beziehungen zu Tschetschenien gar als vorrangiges Problem der Föderation. Zu diesem Zeitpunkt schien Moskau sogar bereit zu sein, Tschetschenien Rechte einzuräumen, die über den Vertrag mit Tatarstan hinausgingen. Es ist unklar, woran die Verhandlungen schließlich gescheitert sind. Jedenfalls kristallisierte sich nun der Sturz Dudajews als vorrangiges Ziel der Moskauer Politik heraus.

Dabei griff die russische Führung zunächst auf ein Muster zurück, das sie im Kaukasus sonst anzuwenden pflegt und im abchasisch-georgischen Konflikt vorexerziert hat, nämlich das abwechselnde Schüren und Schlichten. Doch die von Moskau finanziell und militärisch unterstützte tschetschenische Opposition scheiterte im Herbst 1994 kläglich.

Vermutlich hätte ein schneller Sieg der russischen Regierungstruppen in Grosny das Zentrum gestärkt. Die Dauer des Krieges und der Ansehensverlust der Jelzin-Führung stärkt jedoch die Republiken und Regionen. Das Zentrum ist zerstritten, selbst die Armee ist in der Tschetschenienfrage gespalten.

Die meisten Führer der Republiken Rußlands hatten von Anfang an den Einsatz des Militärs verurteilt. Konflikte innerhalb der Föderation dürften – so ihre Meinung – nur mit politischen Mitteln gelöst werden. Diese Kritik wird immer heftiger. Der Präsident der Republik Sacha (Jakutien) warnt davor, daß der unvermeidliche Sieg der Regierungstruppen die separatistischen Bewegungen in vielen nationalen Gebilden Rußlands nicht vermindert, sondern vielmehr stärkt und damit den Zusammenhalt der Förderation gefährdet. Die Dachorganisation von zwölf nationaltatarischen Vereinigungen forderte den sofortigen Rückzug der russischen Truppen und die Anerkennung Tschetscheniens als unabhängigen Staat.

Ein Kongreß der Völker Rußlands

Wie schon während der Auseinandersetzungen zwischen Präsident Jelzin und dem Obersten Sowjet im Sommer 1993 versuchen einige Republikführer die Schwäche des Zentrums auszunutzen, um ihren Spielraum auszudehnen. Die Entscheidung für den militärischen Einsatz fiel ohne Beteiligung der Republikführer. Ihr geringer Einfluß in zentralen Fragen wurde ihnen damit vor Augen geführt. In der ersten Kammer des russischen Parlaments, im Föderationsrat (mit je zwei Deputierten aus den 89 Subjekten der Föderation), sind zwar viele Republikchefs vertreten, sie sind aber gegenüber den russischen Delegierten in der Minderheit und haben wenig Einfluß auf den Präsidenten und die Regierungspolitik. Viele Republiken sind mit dieser Situation unzufrieden und verlangen die Wiedereinrichtung eines „Rats der Republikchefs“.

In der tschuwaschischen Hauptstadt Tscheboksary trafen sich zu diesem Zweck am fünften Januar 1995 führende Vertreter von sieben Republiken (Baschkortostan, Marie El, Tschuwaschien, Karelien, Mordwinien, Udmurtien und Tatarstan). Die Versammlung verurteilte den Krieg in Tschetschenien und verlangte eine politische Lösung. Sie lud die Gouverneure der russischen Gebiete, gesellschaftliche Organisationen und die Regierung ein, an solchen Beratungen teilzunehmen. Als zentrale Aufgabe bezeichnete die Versammlung die Einrichtung eines „Kongresses der Völker Rußlands“, der die nationalen Fragen beraten solle. Die Verwirklichung dieser Pläne würde eine Stärkung der nichtrussischen Völker bedeuten, aber auch das Gewicht der Regionen insgesamt erhöhen.

Im Unterschied zu den Republikchefs halten sich die Gouverneure der russischen Gebiete auffallend zurück. Einerseits treten sie für eine friedliche Lösung ein, andererseits betonen sie die Notwendigkeit, der Verfassung in Tschetschenien Geltung zu verschaffen. Die Vorsicht der Gouverneure ist verständlich. Fast alle Gouverneure sind von Jelzin ernannt worden. Sie können auch jederzeit von ihm abberufen werden und meiden daher eindeutige Festlegungen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Der Gouverneur des Irkutsker Gebietes erklärte öffentlich, daß er den Einsatz von Gewalt in Tschetschenien ablehnt. Auch die Moskauer Stadtduma hat den Einmarsch als Verfassungsbruch bezeichnet und sieht Gefahren für die demokratischen Prozesse in ganz Rußland. Es verwundert dagegen nicht, daß ausgerechnet die Duma der Exklave Kaliningrad die Regierung auffordert, die Einheit Rußlands sicherzustellen.

Verheerend wirkt sich der Tschetschenien-Krieg auf die russische Position im Nordkaukasus aus. Alle nationalen Bewegungen der Region protestierten gegen den Militäreinsatz und verlangten von ihren Republikführungen sogar, den Förderationsvertrag bei einem Fortgang des Krieges aufzukündigen. Besonders vehement kritisieren Inguschien und Dagestan die russische Kriegspolitik. Der inguschische Präsident Auschew warnte davor, daß er nicht den Eintritt inguschischer Freiwilliger auf seiten der Tschetschenen verhindern könne.

Die Tschetschenen und Inguschen sind eng verwandte Völker, die unter Stalin das Schicksal der Deportation teilten und bis 1991 in einer gemeinsamen Republik zusammenlebten. Die aus sechzehn Ethnien bestehende sogenannte „Konföderation kaukasischer Völker“ entsandte zur Unterstützung der Tschetschenen Kampftruppen. Sogar der Ministerpräsident der traditionell moskautreuen Republik Nordossetien warnte vor einem Auflodern antirussischer Emotionen, das die Zugehörigkeit der Region zur Russischen Förderation gefährden könne.

Moskau steht heute vor dem Scherbenhaufen seiner Nordkaukasuspolitik. Selbst traditionell loyale Ethnien wenden sich von Rußland ab. Die oft zerstrittenen Völker dieser Region scheinen durch den blutigen Krieg in eine gemeinsame antirussische Solidarität zu finden.