"Bei uns kann das nicht passieren"

■ Nach dem großen Erdbeben in Japan berichtet Andreas Gehrtz, ein in der weithin zerstörten Millionenstadt Kobe lebender Deutscher, über die ersten Reaktionen ihrer Bewohner / Wasser und Unterkünfte fehlen

Der 44jährige Gehrtz lebt seit 21 Jahren in Japan, ist dort mit einer Japanerin verheiratet und leitet eine private Deutschschule in Kobe.

Unser Haus am Rande von Kobe liegt am Berghang und hat die Erdstöße gut überstanden. Wir haben kein Wasser mehr, aber immerhin noch Strom. Wir waren überhaupt nicht vorbereitet, denn hier in unserer Gegend leben wir immer mit dem Bewußtsein: das passiert bei uns nicht. Vielleicht in Tokio oder Nordjapan – nicht hier in Kobe und Osaka. Hier gibt's Taifune oder Hochwasser, aber keine großen Erdbeben. Die Leute in Tokio sind immer vorbereitet, die haben ihr Zeug im Schrank – Helm, Taschenlampe und Radio.

Als das Beben am Dienstag kam, war es noch dunkel, und dann sah man in der Ferne ein paar Feuersäulen, sehr wenig. Kurz vor acht Uhr hatten wir wieder Strom. Im Fernsehen gab es dann die ersten Berichte – eigentlich ganz lässig und cool wurde davon berichtet, daß es ein starkes Erdbeben gegeben habe und ein paar Häuser zusammengestürzt seien. Es erweckte nicht den Eindruck, als sei etwas Furchtbares geschehen.

Da dachte ich mir, geh ein bißchen früher los zur Arbeit – man reagiert ja ganz merkwürdig in einer solchen Situation. Mein Kopf war damit beschäftigt, pünktlich zur Arbeit zu kommen. Also ging ich ein bißchen früher los, weil sie im Fernsehen auch nicht mitgeteilt hatten, ob irgend etwas fährt. Ich glaube, ich war der einzige, der sich zur Arbeit aufmachte. Die Nachbarn wünschten mir noch Glück mit einem traditionellen Gruß, der übersetzt etwa bedeutet: „Machen Sie sich fröhlich auf den Weg.“ Ich ging zum Bahnhof und sah unterwegs, daß sich die Straßen um einen halben Meter verschoben hatten und es überall Risse gab. Vor dem Bahnhof hatte sich der Boden übereinandergeschoben. Ich fragte einen Eisenbahner, wann denn wieder ein Zug fahre. In zwei, drei Tagen, sagte er.

Aber das mußte ja immer noch nicht bedeuten, daß etwas Größeres geschehen war, denn nach jedem Erdbeben werden erst einmal die Schienen überprüft, ob sich nichts verschoben hat. Dann ging ich weiter zu einer anderen Bahnstation, die war eingestürzt. Aus dem Boden drang Gasgeruch. Es war eine ganz eigenartige Atmosphäre: Die Leute, die da umhergingen, wirkten fast gelassen, überhaupt nicht panisch, eher – interessiert. Sie sahen sich das an und nahmen es zur Kenntnis. Ich entschloß mich, nachzusehen, ob die Schule beschädigt war. Kobe ist so ausgedehnt, daß man vom westlichsten bis zum östlichsten Punkt normalerweise mit der Bahn fast zwei Stunden braucht. Bis zu meiner Schule sind es von mir aus etwa 18 Kilometer, ich wanderte also an der Straße entlang und hoffte, daß mich ein Auto mitnimmt, aber vergeblich. Die Japaner kennen kein Trampen.

Die Straße war sehr beschädigt, und der Verkehr kam kaum voran. Ich sah dann, daß alle Holzhäuser zusammengefallen waren, gerade einstürzten oder brannten. Die neueren Gebäude waren erhalten geblieben. Das traditionelle japanische Holzhaus besteht aus einem Rahmen, mit Pfosten, die das Dach halten. Das Dach ist mit sehr schweren Dachpfannen gedeckt und die Zwischenwände bestehen aus einer Art Sperrholz. Wenn in den älteren Häusern die Pfosten durch Termiten oder Schwamm marode werden, knallen die Dächer bei den Beben einfach nur so herunter.

Auf meiner Wanderung kam ich durch Gebiete, die sahen aus wie nach einem Bombenangriff. Alle dreißig Meter kam dort Rauch aus den Ruinen, und die Leute saßen davor und versuchten ihre Habseligkeiten zusammenzusammeln. Es ist sehr kalt, nur ein paar Grad über Null. Aber die Leute waren relativ ruhig, es gab keine Hektik oder Panik.

Und dann ein Stück weiter wiederum kam ich durch Gebiete, da war absolut nichts passiert, mal eine Gartenmauer umgefallen oder so.

Meine Schule liegt im östlichen Teil von Kobe, in einem Gebiet, wo glücklicherweise kaum etwas passiert ist. Aber es gab kein Wasser, keinen Strom und kein Gas. Der Fotoladen nebenan hat dann für mich aufgemacht und mir Batterien gegeben. Im Radio hieß es zu dieser Zeit, es war noch Vormittag, daß etwa 500 Menschen gestorben seien. Fast alle Läden waren geschlossen, nur die kleinen sind geöffnet. Und die haben die Preise nicht etwa erhöht, sie versuchen, dafür zu sorgen, daß so viele Menschen wie möglich mit Lebensmittel versorgt werden können.

Am Abend begann sich auch schon bei den Kommentatoren Kritik zu regen: Es gab kein Wasser, die Feuerwehr kam nicht durch oder hatte kein Wasser zum Löschen. Es brennt immer mehr, die Häuser waren nach der jüngsten Trockenperiode besonders leicht entzündbar. Überall tritt Gas aus dem Boden aus, der Verkehr ist völlig lahmgelegt.

Die Armee sei zu spät eingesetzt worden, heißt es jetzt. Die Leute werden ärgerlich, weil sie kein Wasser kriegen. In vielen Gegenden sind die Leute auf Wassertanks angewiesen, die kommen aber nicht durch. Die Zahl der Toten steigt. Die Turnhallen und Notaufnahmen sind überfüllt, und man fühlt sich zu wenig informiert. Niemand weiß, wie es weitergeht. Dennoch sind die meisten Leute relativ ruhig. Sie freuen sich einfach, daß sie noch leben. Aufgezeichnet von Jutta Lietsch