Die Rebellion der Jungen

Schlafmittel und Amphetamine auf der deutschen Nachwuchsbühne. Zwei klinische Fälle, untersucht  ■ von Arnd Wesemann

Der Typus: Schweigenmacher

Immer mal wieder schweigt das Theater. Dann ist nur noch das Schlurfen von Ballettpfötchen zu hören, das Gleiten dünner Ledersohlen über den Tanzboden. Das Zirpen von Grillen hallt aus dem Tonbandgerät. Schweißspuren der Tänzerin kleben noch am Bühnenboden. Ihr angestrengtes Keuchen hinterm Paravent wird allmählich ruhiger, das Licht aus ein paar Dutzend Scheinwerfern verglimmt, die Schweißspuren trocknen – Applaus setzt nicht ein. Die Scheinwerfer leuchten nicht auf. Das Theater hat gerade erst begonnen.

Das Publikum könnte bereits jetzt, nach zehn Minuten, in einen komaähnlichen Halbschlaf fallen. Eine Dame um die Dreißig hat voraussehend Strickzeug mitgenommen. Der Rest des Publikums harrt aus, bis es geweckt wird. Es ist gnädig. Schweigt und wird erst später in der Kneipe stöhnen und seufzen, so wie das Theater nun selbst zu stöhnen und dabei anmutig zu seufzen beginnt. Erneut zeigen sich Tänzerinnen. Sie nehmen Anlauf, machen „Plié“, dann „Pas de bourrée“, sie trippeln und wollen flüchten. Das Publikum hat denselben Impuls. Es schaut zum Lokalkritiker, der Zeitung liest, neidisch, weil er einen Leuchtkugelschreiber besitzt. Er läßt das Publikum im Stich und wird übermorgen, wenn das Ereignis längst vergessen ist, ein paar leere Sätze geschrieben haben. Wenn er nur zwanzig Zeilen bekommt, wird er den zeilenfüllenden Titel des Stückes – „Der Ich-Mechanismus“ und den zeilenfüllenden Namen des Choreographen – „Erik Kouwenhoven“ – so oft wiederholen, bis sein Platz in der Zeitung voll ist. Darüber macht er sich jetzt schon Gedanken. Das Publikum aber denkt: Wenn das Theater nicht weiter stören würde, könnte es sich seine eigenen Gedanken machen.

Doch der Regisseur oben am Lichtstand, im Kontrollturm der Bühne, im Kapitänsstand mit Übersicht, er wird einen Teufel tun. Er wird das Publikum mit Effekten wecken. Schon stürzen fahnenartige, schmale Vorhänge von der Decke. Wie Bungeespringer klatschen sechzehn Theatergardinen zu Boden. Es klingt wie eine Gewehrsalve; vorbei mit dem ruhigen Gedankenfluß. Das Theater tut, als würde etwas passieren. Aus dem Tonband quellen glucksende Geräusche, die Tänzerinnen geben sich Mühe, um den Effekt der fallenden Vorhänge zu überbieten. Sie legen sich auf den Boden und imitieren die Tanzbewegung einer berühmten Choreographie, die sie irgendwann bei einem anderen Choreographen gesehen haben. Ihre festen Waden hüpfen bei jedem Schlenker. Das macht Eindruck, auch ein Fitneß-Center nimmt sich das Recht auf Kunst.

Das Publikum fällt in noch tieferes Sinnieren, es stützt das Kinn und stiert zur Decke. Dort oben hängen weitere neun zusammengerollte Fahnen. Auch sie werden sich eines schönen Moments wie Bungeespringer zu Tode stürzen. Eine Frage der Zeit. Die Antwort, wann auch dieser Effekt zur Geltung kommt, kennt nur der Mann auf der Kommandobrücke, der Künstler, der sich mißverstanden fühlt. Soviel ist für ihn sicher: Das Publikum hat keine Ahnung, wieviel Mühe und Schweiß in seinem Werk steckt, es weiß nicht, wie glücklich er über seinen Einfall gewesen ist, wieviel Geld er borgen mußte, damit sich die hängenden Fahnen sogar drehen können. Es ahnt nicht, wieviel Kraft es kostet, Tänzerinnen für eine Idee zu begeistern, die nicht mehr als ein Einfall ist – außerdem ahnt das Publikum kaum, daß Tänzerinnen dafür derart wenig verdienen.

Der mißverstandene Regisseur, das weiß er, ist ein vorzüglicher Bühnenbildner. Tänzerinnen, auch das weiß er, werden sich in sein Bühnenbild am wenigsten einmischen; ein Schauspieler könnte etwas Störendes sagen, ein Musiker würde sich wichtig nehmen. Am schönsten, das hat er oft in einsamen Stunden auf der Probebühne gesehen, ist sein Einfall, sind seine sich drehenden Theatervorhänge ohne die Tänzer, ohne Stimmen und ohne die umkippenden Bierflaschen unter den Publikumssitzen. Nur in der absoluten Stille, wenn allein das leise Singen der Scheinwerfer und das sanfte Summen der Elektromotoren zu hören ist, wenn all seine Fahnen sich in leichter Rotation um sich selber drehen, dann ist es Kunst geworden, dann leuchtet ihre Schönheit. So denkt er und zorniger werdend: Man müßte das Publikum stundenlang in diesen engen Raum sperren und die Schönheit erleiden lassen. Dabei darf es keinen Muckser von sich geben. Nur dann wird das Theater endlich schweigen.

Der Typus: Theatermacher

Immer mal wieder zündet das Theater. Dann bekommt keiner mehr ein Auge zu, und jeder paßt auf wie ein Luchs. Das mag eine Folgeerscheinung der Psychiatrie sein, in die sich das Publikum freiwillig und gegen ein Eintrittsgeld einliefern läßt. Es starrt auf ein Sprechzimmer am Swimmingpool. Es gibt keinen besseren Ort für Sprechtheater als ein Sprechzimmer. Und keinen anmutigeren Ort als einen Swimmingpool, auf dem die Zuschauer ihre Augen ausruhen lassen können, um die Nerven zu beruhigen. Es spielen Thomas Heinze und Nina Kronjäger, bekannt aus Film, Funk und Fernsehen. Alias C.B. Bodenstein und Susanne Strenger, bekannt für das Theater eines gewissen René Pollesch, von dem gesagt wird, er sei der beste Dramatiker der Republik, weil er noch nie in Theater heute stand. Und darum auch nicht Gefahr läuft, eine dramatische Eintagsfliege zu werden (nur einmal stand er in Theater heute: Da verpetzte ihn ein gewisser Robin Detje – Schwamm drüber).

Die kettenrauchende Nina Kronjäger erzählt, sie sei die langweiligste aller Nymphomaninnen. Sie schluckt Beruhigungstabletten, der Doktor Amphetamine; beide haben Angst, von Heinrich dem Vierten (H. IV) angesteckt zu werden. Der Doktor hat seine Schädelöffnung unterbrochen. Der Patient ohne Schädeldecke wird ins Sprechzimmer vor den Pool gefahren.

Nina Kronjäger, kettenrauchend, ascht versehentlich in das Schädelloch, bemerkt es. Vor Schreck fällt ihr die Zigarette hinein. Sie will die Zigarette aus dem Hirn herausfischen, die Briesfäden kleben daran wie Kaugummi. Sie legt die Zigarette zurück, aus dem Schädel qualmt es, sie holt eine Zange, versucht die Zigarette aus der Hirnmasse zu schneiden, es klappt nicht. Sie kippt Soda ins Hirn. Der Zigarettenrauch legt sich – da federt die Kopfstütze der Bahre hoch, das Gehirn schleudert heraus.

Solches Theater nannte man früher Grand Guignol, heute heißt es Snuff-Comedy. Nach den Snuff- Movies hat nun auch das Theater die „echte“ Vergewaltigung, den „echten“ Lustmord entdeckt; eine Grausamkeit, die das Publikum in eine quiekende Lachsackladung verwandelt. Vor lauter Ekel brüllt es ohne Unterlaß. Keine Ahnung, warum Snuff-Movies nur unterm Ladentisch gehandelt werden, Snuff-Comedies dagegen in der Psychiatrie spielen.

Zumal es sich um moderne Psychiatrie handelt. Überall Überwachungskameras. Polizisten rennen durchs Haus, um Snuff-Movies ekstatischer Selbstverstümmler und vergewaltigter Nymphomaninnen einzusammeln. Derweil ertrinken zwei Synchronschwimmerinnen und stecken kopfüber im Pool. Pfleger versuchen die nymphomanischen Patientinnen zu vergewaltigen. Polizisten spenden Blumen für die Vergewaltigte, die eine Leiche aus dem Leichensack schmeißt und selber hineinsteigt, um unerkannt mit dem Leichenwagen zu fliehen. Anarchie im Irrenhaus?

„Gehen Sie der Patientin nach. Sie versucht sich umzubringen. Sie sollen es verhindern. Warten Sie nicht, bis es zu spät ist. Es ist nicht zu ihrem Vergnügen.“ Die Lust am Zuschauen, wie andere sich ein Leid zufügen, ist ebenso böse, wie es vielleicht die letzte Lust ist, seitdem selbst das Fernsehen nicht mehr die Söhne gegen die Alten rebellieren läßt, sondern die kohlgewollten Alten wie Günther Strack, also die Väter selbst, für Recht und Ordnung sorgen läßt.

Wie die Jungdramatiker heute. Sie zeigen, wie böse die Neonazis sind, wie schlimm es den Behinderten geht, wie schmutzig unsere Umwelt ist und wie korrupt die Banker. Sie haben dieselbe Meinung wie ihre Väter. Wo ist sie hin, die Lust, nüchtern Auto zu fahren und bei einer Straßenkontrolle den Polizisten ein Führerscheinfoto zu zeigen, auf dem man ihnen zuprostet?

Im „echten“ Theater geht alles nach Wahrheit und Aufrichtigkeit, bei Pollesch überbieten sich die Gemeinheiten. Im Theater schmeißt man längst nicht mehr mit Tomaten und Kondomen. Dafür sagt man auf der Bühne auch nicht, daß Vergewaltigungen eingebildet sind, derart, daß Frauen im Publikum vor Vergnügen einen Lachkrampf bekommen. Polleschs Theater entzündet. Eines Tages wird es aus der Psychiatrie ausbrechen. Und wehe dann den Theatern der Väter!