Politisch, praktisch, gut

Kaltstarter: Stefan Pannen hat eine weitere Generation entdeckt: die „Mauerkinder“  ■ Von Harry Nutt

Der gleichen Altersgruppe anzugehören heißt nicht, auch das gleiche zu tun und zu denken. Was benachbarte Geburtsjahrgänge zu einer Generation macht, ist ein Ereignis, das sie zu einer Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft zusammenschließt. Das wiederum eröffnet ein weites Feld. War der typische Achtundsechziger 1968 18Jahre alt oder bereits 36?

Während die 68er Generation soziologisch einigermaßen genau umrissen ist, hatten es nachfolgende Altersgruppen schwer, sich im Zeichen eines gemeinsamen Kollektivereignisses zu definieren. Von der Schlaffi- bis zur Spontigeneration gab es verschiedene Namen für die heute 30- bis 40jährigen, Anspruch auf Gültigkeit konnte keiner so recht behaupten. Nicht ohne Ironie für die eigene Geschichte hatte zuletzt Reinhard Mohr eine Altersgruppe skizziert, die von der 68er Revolte noch gestreift, aber nicht mehr mitgerissen wurde. Die 78er waren immer nur „Zaungäste“. Als Zuspätgekommene leiden sie unter der Erfahrung, das bislang letzte große Kollektivereignis, die alle gesellschaftlichen Bereiche erfassende Revolte, verpaßt zu haben.

Nun beanspruchen nachgerückte Jüngere den Titel Generation, als bedeute er eine Art historische Gratifikation. Unlängst glaubte der Zeitungsjournalist Walter Wüllenweber in den „Fernsehkindern“ das Paradigma für die um 1962 Geborenen gefunden zu haben. Nun zieht der Fernsehjournalist Stefan Pannen nach und entdeckt die „Mauerkinder“. Wie schon Wüllenweber läßt auch Pannen Kindheitserinnerungen im Schnelldurchlauf Revue passieren, um den Erfahrungshorizont der Altersgruppe abzustecken. Das ist bisweilen treffend beobachtet und hier und da amüsant beschrieben, erinnert aber auch stark an das Einkleben von Fußballerbildchen ins Knorr-Album. Kolonnenweise läßt der Autor 28- bis 39jährige aus Ost und West aufmarschieren, um – ausschließlich – anhand ihrer Erfolgsgeschichten zu beweisen, daß diese Generation längst nicht mehr hinter Taxi-Steuerrädern, sondern an den Schalthebeln von Wirtschaft, Politik und Kultur sitzt. Das weltfremde Pathos der Vorgängergenerationen haben sie in Pragmatismus und Kompetenz verwandelt, heißt es, ohne deren Ideale verraten zu haben. Britta Steilmann (28) zum Beispiel, im letzten Herbst zur „Öko-Managerin des Jahres“ gekürte Modemacherin, hat so viel Energie, daß sie nebenbei nicht nur den inzwischen abgestiegenen Bundesliga-Club SG Wattenscheid 09 managt, sondern auch zur Kanzlerkandidatsberaterin avancierte. Oder Carsten und Marcus Petersen: Aus einer Diplomarbeit entwickelten sie das STATT-Auto, das Erfolgsmuster für alle Car-sharing-Unternehmungen in Deutschland. Wie Schuppen fällt es einem Seite für Seite von den Augen: Die eben noch als Zuspätgekommene Gescholtenen sind die Aufsteiger der letzten Jahre – politisch, praktisch, gut.

Warum eigentlich Mauerkinder? Diese Altersgruppe ist nach dem Mauerbau aufgewachsen, aber im Bann der 68er Idole und den Verführungen der Wohlstandsgesellschaft schlief sie einen langen Dornröschenschlaf links und rechts des sozialistischen Schutzwalls. Nach dessen Zerstörung 1989 startete sie durch. Spät, aber nicht zu spät und fast unbemerkt seien die Mauerkinder erwachsen geworden. Das ist schön ausgedacht, und die vielen Kurzporträts und Interviews liefern auch ein wenig Empirie. Aber an keiner Stelle wird die Metapher von den Mauerkindern soziologisch evident. Mag sein, daß der Fall der Mauer irgendwann einmal zu einem harten soziologischen Datum wird. Im Moment aber kann davon noch keine Rede sein.

Meist bleibt es bei plakativen Selbstbeschwörungsversuchen: „Wir Mauerkinder nehmen die großen Themen der siebziger Jahre auf und bearbeiten sie neu: ökologische Fragen, Frauenemanzipation, Ethik. Dabei versuchen wir, scheinbare Gegensätze unter einen Hut zu bringen: Ökologie und Ökonomie, Familie und Karriere, das Machbare und das Wünschenswerte.“ Wider alle Prognosen scheinen die Mauerkinder gut drauf zu sein. Stefan Pannens Bestandsaufnahme ist aus dem euphorischen Gefühl heraus geschrieben, es irgendwie doch noch einmal geschafft zu haben. Daß es auch noch eine „GenerationX“ geben soll, die unter umgekehrten Vorzeichen agiert, paßt da nicht ins Bild. Eine Sammlung mit Verlierern dieser Altersgruppe wäre ohne weiteres denkbar.

Leider unterschlägt Pannens saloppe Schreibe wichtige Grundbedingungen dieser Wissenschaft. Daß, was die Aufstiegschancen angeht, 30jährige derzeit wieder höher im Kurs stehen, ist zu vermuten. Ein flüchtiger Blick in eine Sozialgeschichte des Aufwachsens im 20.Jahrhundert hätte hier einen Verdacht zum Argument machen können. Die vielen success-stories der Altersgenossen wären darüber hinaus interessanter gewesen, wenn man über die Herkunftsgeschichte der Durchstarter informiert worden wäre. Die Mauerkinder sind nämlich in nicht unerheblichem Maße eine Erbengeneration. Aber anstatt die Gestalt seiner Altersgruppe aufzuzeigen, sammelt Pannen hastig Indizien für seine These. Dabei verliert er mehrfach die Übersicht.

„Wir Mauerkinder“ erscheint als ein zu Buchlänge aufgeblasener, für eine Tiefdruckbeilage geplanter Essay. Bei aller Sympathie für die Suche nach zeitdiagnostischen Begriffen erweist sich dieser Versuch als fatal, weil er die seiner Altersgruppe eben erst bescheinigten Attribute Pragmatismus und Kompetenz durch die Flüchtigkeit der ausgebreiteten Gedanken unterläuft. Da sollten die 30jährigen auf einen Generationennamen lieber noch verzichten.

Stefan Pannen: „Wir Mauerkinder“. Beltz Quadriga, Weinheim/ Berlin 1994, 262 S., 38 DM