Virtuoser Buddhismus

Die Erkenntnistheorie hat gar nicht Abschied von einem ihrer größten Probleme genommen – sie hat es aufs Leben übertragen: Wie formuliere ich eine Frage, auf die ich eine Antwort finden kann, die zu akzeptieren ich bereit bin?  ■ Von Dirk Baecker

In den vergangenen Jahren ist so viel über den Konstruktivismus diskutiert worden, daß die beiden neuen Bücher der Neurobiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela Gefahr laufen, als Wiederholungen des allseits Bekannten von den Büchertischen schneller wieder zu verschwinden, als sie draufgelegt worden sind. Aber damit täte man ihnen Unrecht. Sie sind immer noch für eine Überraschung gut. Und sie zeigen immer noch Konsequenzen ihres Ansatzes auf, mit denen man so nicht gerechnet hätte. Vor allem jedoch erschöpft sich der Konstruktivismus nicht in der mittlerweile altbackenen Behauptung, die Umwelt sei die Erfindung unserer Köpfe. Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, daß diese Köpfe damit überfordert wären. Tatsächlich ist der Konstruktivismus nach wie vor ein weitgehend uneingelöstes Programm erkenntnistheoretischen Umdenkens, das über im engeren Sinne wissenschaftliche Fragen hinausreicht.

Das Buch „Was ist Erkennen?“ geht aus Vorlesungen von Maturana hervor. Ergänzt durch eine zwischen Enthusiasmus (gegenüber der Aufwertung des Lebensbegriffs) und Ablehnung (der Verwendung des Systembegriffs) schwankende Einleitung von Rudolf zur Lippe und durch die Mitschrift einer aufschlußreichen Diskussion zwischen Maturana und den Zuhörern seiner Vorlesung, kreist es um die im Titel genannte Frage. Maturana gibt dieser Frage eine Wendung mit auf den Weg, die sein Denken aus den gewohnten Bahnen erkenntnistheoretischen Denkens herausführt. Er startet nicht mit den bekannten Unterscheidungen zwischen Denken und Sein, Subjekt und Objekt, Wahrnehmung und Täuschung, sondern bereits bei der Formulierung der Frage mit der Suche danach, was er, Maturana, wohl als Antwort auf die Frage akzeptieren würde.

Damit wird unser Verständnis wissenschaftlicher Methode auf den Kopf gestellt. Es wird nicht mehr Gewußtes zusammengestellt und umsortiert, um Schlußfolgerungen auf Nichtgewußtes zu ziehen. Es werden nicht mehr die überlieferten Problemstellungen übernommen, um herauszufinden, welche Lösungen sie für neue Problemstellungen bereitstellen. Sondern es wird vorausgesetzt, daß man die Antwort schon weiß und nicht weiß zugleich. Denn man lebt ja schon, wenn man nach dem Leben fragt. Man denkt bereits, wenn man das Denken untersucht. Man spricht bereits, wenn man sich fragt, was die Sprache leistet. Und so weiter.

Es wird auf den Moment gewartet, in dem man, mit der formulierten Antwort konfrontiert, ausruft: Ja, genau so kann ich mir das denken; genau so habe ich mir das gedacht; das stimmt mit all dem überein, was ich sonst noch so weiß; das wirft endlich ein klärendes Licht auf das, was mir bisher so unklar war. Erkennen ist dann kein bohrendes Suchen, kein mühsamer Prozeß der Negation, sondern ein spielerisches Variieren und Rekombinieren des Materials, bis sich ein Evidenzerlebnis einstellt, das nichts mit Divination, aber sehr viel mit der Herstellung von Kohärenz zu tun hat. Die wissenschaftliche Arbeit gilt dann nicht mehr in erster Linie der Formulierung von Antworten, sondern der Formulierung jener Fragen, auf die Antworten gegeben werden können, die im genannten Sinne überzeugen. Wir wissen nicht, was wir herausfinden wollen. Aber wir besitzen die Kriterien bereits, nach denen wir mögliche Lösungen sortieren.

Man übertreibt nur wenig, wenn man behauptet, daß der Rest der Vorlesung Maturanas nichts anderes ist als ein Versuch, einerseits die Voraussetzungen für diese Wendung erkenntnistheoretischen Denkens nachzuliefern und andererseits einige Konsequenzen aufzuzeigen, zu denen unter anderem auch Vermutungen darüber zählen, warum es so lange gedauert hat und immer wieder dauert, sich diese spielerische und in einem bestimmte Sinne lebendige Auffassung des Erkenntnisvorgangs zurechtzulegen. Maturana rekapituliert seine Beschreibung des Lebens als Autopoiesis. Er entwirft ein Konzept der Unterscheidung, die diese sowohl als Trennung wie als Verknüpfung zu begreifen erlaubt. Er beschreibt die menschliche Sprache als koordinierte Verhaltenskoordination, deren wichtigste Effekte in der Beschleunigung der Koordination selber liegen.

Und er unterfüttert schließlich sein paradoxes Konzept der Unterscheidung durch eine Theorie der menschlichen Kultur, deren Urkatastrophe er nicht, wie René Girard, in einem ersten Lynchmord am Mitmenschen, sondern im Ausschluß und Mord des Wolfes begründet sieht, jenes Tieres, das noch heute durch die finstersten Träume und Märchen der Menschen geistert. Die Tötung des Wolfes, den Jack Nicholson wiederauferstehen läßt, begründet eine „patriarchalische“, an Aneignung, Eigentum, Ausschluß, Kontrolle und Vermehrung interessierte Kultur, die die Alternative einer „matristischen“, Beziehungen, Zusammenhänge, Rücksicht und Liebe betonenden Kultur in das Reservat der Mutter-Kind-Beziehung zurückdrängt.

Welchen Widersprüchen und Möglichkeiten die matristische Kultur in ihrem Reservat unterliegt, untersucht Maturana zusammen mit der Ökopsychologin Gerda Verden-Zöller in einem ebenso hellen wie problembewußten Buch über „Liebe und Spiel“. In diesem Buch behauptet Maturana auch, daß der Matrismus zumindest in der Beziehungsdynamik der Demokratie und in der Reflektivität der Wissenschaft weiterlebt, wenn auch bedroht durch die patriarchalische Gestimmtheit aller Hierarchie und den Rationalitäts- und Objektivitätsglauben der zur Autorität neigenden Philosophie.

Anzumerken ist, daß mit dem Buch „Was ist Erkennen?“ zum ersten Mal eine Übersetzung der in einem speziellen Englisch formulierten Überlegungen Maturanas verfügbar ist, die seinen zirkulären Formulierungskünsten keinen Abbruch tut und dennoch in hohem Maße lesbar ist. Angesichts dieser Leistung ist man bereit, dem Übersetzer den etwas überzogenen Übermut seiner Zwischenüberschriften zu konzedieren. Eine Anekdote macht die Reserve deutlich, mit der Maturana sein Denken formuliert: Er sei, so berichtet zur Lippe, mit einer Ausnahme (amor) nicht bereit gewesen, dem Übersetzer mit den Begriffen seiner spanischen Muttersprache zu Hilfe zu kommen, wenn nach deutschen Entsprechungen gesucht wurde.

Francisco J. Varela, ein früherer Mitarbeiter Maturanas, teilt nach

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wie vor dessen systemtheoretischen Ausgangspunkt der Trennung zwischen den Bereichen, von deren Verknüpfung wir als Beobachter ausgehen zu können glauben. In seinen Lezioni italiane, die jetzt auf deutsch vorliegen, geht er über die psychoanalytische Annahme, daß es geistige Vorgänge gibt, die nicht zu Bewußtsein gebracht werden können, hinaus und postuliert, daß zwischen Bewußtsein und Geist weder eine notwendige noch eine wesentliche Verbindung existiert. Die Vorgänge des „Geistes“ (im Sinne des englischen „mind“), mit deren Hilfe wir visuelle, akustische, olfaktorische et cetera Wahrnehmungen und überhaupt Vorstellungen, die wir als Gedanken auffassen, hervorbringen, können wir uns nicht bewußt machen. Aber sie laufen bei allen unseren Beobachtungen gleichzeitig, also unbeeinflußbar, und in der Gestalt von Millisekundenoszillationen mit.

Wenn Erkennen in diesem Sinne gleichzeitig Vollzug von Leben ist, dann läßt sich, so Varela, „ethisches Können“ nicht auf die Fähigkeit, korrekte Urteile abgeben zu können, begrenzen, sondern muß, ganz im Gegenteil, als Fähigkeit, spontan das Richtige im Sinne des Angemessenen tun zu können, verstanden werden. Ein ethischer Könner ist nicht derjenige, der immer und überall die Unterscheidung zwischen Falsch und Richtig oder zwischen Gut und Böse bereithält und entsprechende Urteile zu fällen und zu begründen weiß. Sondern diesen Titel ist Varela nur demjenigen zu verleihen bereit, der im Wissen um die Situiertheit seines Handelns und Denkens, um die Kontextgebundenheit selbst seines Eigensinns und um die Geschichtlichkeit seines Wissens zu handeln in der Lage ist. Virtuosen einer solchen Ethik findet er, wie schon in seinem Buch „Der mittlere Weg der Erkenntnis“ (Scherz Verlag, 1992), im Buddhismus.

Über eine solche Auffassung läßt sich theoretisch kaum rechten. Es muß sich herausstellen, ob die Haltung der Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, die sie begründet, in der Lage ist, heilsamere Effekte auszulösen als die Knüppel moralisierender Urteilskraft, an die wir gewöhnt sind.

Nicht nur mit Bezug auf die Ethik, sondern auch mit Bezug auf die Neurophysiologie stellt Varela in seinen Vorlesungen Möglichkeiten vor, unsere Fragen so umzuformulieren, daß wir Antworten geben können, die uns überzeugen. Es ist phänomenal, wieviel harte Arbeit dieser Umformulierung zugrundeliegt und wie einfach dann die Antworten sind, die wir erhalten.

Humberto R. Maturana: „Was ist Erkennen?“ Aus dem Englischen von Hans Günter Holl. Piper, München 1994, 244 S.

Humberto R. Maturana und Gerda Verden-Zöller: „Liebe und Spiel: Die vergessenen Grundlagen des Menschseins“. Carl Auer, Heidelberg 1994, 2. Aufl., 210 S.

Francisco J. Varela: „Ethisches Können“. Aus dem Englischen von Robin Cackett. Campus, Frankfurt am Main 1994, 115 S.