■ 50 Jahre nach Kriegsende und Gründung der UNO: Wird eine neue Weltpolitik gelingen?
: 1995 – ein Jahr der Erinnerungen, ein Jahr der Entscheidungen

Wie wird die Weltpolitik im Jahr 1995 aussehen? Sie läßt sich nicht vorhersehen, aber sie wird davon abhängen, wie wir sie gestalten. Viele wichtige Entscheidungen stehen in den kommenden Monaten an. In der zweiten Aprilhälfte tagt in New York die Konferenz zur Überprüfung des Kernwaffensperrvertrages. Er war 1968 abgeschlossen worden und 1970 in Kraft getreten. Nach 25 Jahren muß jetzt beschlossen werden, ob und mit welchen Auflagen er weiter gelten soll. Dieser Vertrag hält den Ungeist der Atombombe in der Flasche. Sie sollte nicht nur nicht geöffnet, sondern noch fester verschlossen werden. Japan hat vorgeschlagen, daß auch die fünf Großmächte, die sozusagen rechtmäßig solche Waffen besitzen, sie endlich abrüsten. Das ist übrigens auch im Sperrvertrag selbst vorgesehen. Daß die Großmächte dieser Auflage nicht entsprechen und den Verzicht, den sie den anderen Staaten abverlangen, selber nicht erbringen, gehört zu den gewichtigsten Einwänden, die eine Verlängerung erschweren werden. Kommt sie aber wirklich nicht zustande, dann dürfte die neue Welt rasch sehr alt aussehen.

Zwei weitere große Entscheidungen stehen an. Die Europäische Union ist vor einer Woche von 12 auf 15 Mitglieder angewachsen. Hätten die Norweger nicht abgelehnt, wären es sogar 16 geworden. Mit so vielen Ländern kann man keinen europäischen Staat mehr machen. Die Europäische Union muß sich in diesem Jahr entscheiden, ob sie durch ständige Vergrößerung zur reinen Freihandelszone herunterkommen oder sich ein zweites Gleis zulegen will, auf dem wenigstens ein paar Staaten, vor allen Frankreich, Deutschland, Italien und die Beneluxländer, das in Maastricht anvisierte Ziel der politischen Union auch wirklich ansteuern. Der Gleisbau wird nicht einfach werden, weil er so viele Widerstände überwinden muß. Wird er aber abgebrochen, fährt Westeuropa nur noch in eine, eine sehr alte und sehr vertraute Richtung, die nicht in die Integration, sondern in die Kooperation unabhängiger Staaten weist.

Die zweite Hälfte der neunziger Jahre könnte dann Ähnlichkeiten aufweisen mit der ersten Hälfte der dreißiger: ein unabhängiges Deutschland inmitten vieler unabhängiger und meist auch kleinerer Staaten. Das war die Struktur, die uns zwei Weltkriege beschert hat. Niemand will sie wiederhaben, natürlich nicht, aber dann muß eben in diesem Jahr so entschieden werden, daß sie wirklich nicht wiederkommt.

Die dritte Entscheidung, die jetzt ansteht, wird daran nichts ändern. Die Nato will in diesem Jahr prüfen, wann und wie sie sich nach Osteuropa erweitern soll. Unausgesprochen steht dabei auch das „Ob“ zur Diskussion. Keiner will gern ran an eine Sache, die mehr Sorgen schaffen als beseitigen wird. Das Deutschland-Problem löst eine solche Erweiterung schon gar nicht, verschärft es eher noch. Denn die Nato bleibt eine Militärallianz souveräner Staaten, sie ersetzt die Europäische Union nicht, sondern ist in diesem Sinne sogar ein Gegenstück dazu. So wird sie von den vielen Kalten Kriegern auch verstanden, die sich jetzt wieder verstärkt zu Wort melden. Statt die Nato der durch das Ende des Ost-West-Konflikts geschaffenen neuen Lage anzupassen, also sie zu entmilitarisieren und zu einem politischen Zusammenschluß zwischen den USA und Westeuropa umzugestalten, wird die alte Militärallianz herausgeputzt und ausgeweitet.

Man muß sich nicht wundern, wenn eine solche Restauration auch die alten Gegensätze wieder restauriert. Es müßten doch im Westen die Alarmglocken schrillen, wenn sich ausgerechnet der russsische Präsident Jelzin darüber beklagt, daß sein Land, das ein Partner des Westens geworden ist und bleiben will, von diesem Westen immer mehr in die Rolle des Feindes zurückgeschoben wird. Wir alle sollten also große Ohren machen, wenn 1995 über die Nato- Erweiterung diskutiert wird. Sie ist nicht so harmlos, wie sie dargestellt wird. Wer in die neue Weltordnung, die nach dem Ende des Kalten Krieges möglich geworden ist, einen so wichtigen Bestandteil aus der alten Konfliktzeit einbaut, sollte wissen und sagen, was er tut.

Um so mehr, als wir in diesem Jahr zwei Jubiläen feiern, die uns sensibilisieren für die in diesem Jahr zu treffenden Entscheidungen. Am 8. Mai 1945 kapitulierte Hitler-Deutschland und mit ihm eine Ära, in der der Krieg als Mittel der Politik galt. Vor 50 Jahren wurden denn auch die Vereinten Nationen gegründet, die daraus die Lehre zogen, ein allgemeines Gewaltverbot erließen und nur noch dem Sicherheitsrat die Gewaltanwendung vorbehielten.

Wenn wir in diesem Jahr das fünfzigjährige Jubiläum der Vereinten Nationen begehen, sollten wir vor allem über dieses Gewaltverbot sprechen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 1994 der Bundeswehr erlaubt hat, an Gewalteinsätzen kollektiver Sicherheitssysteme teilzunehmen, sind jetzt viele Politiker dabei, jegliche Hemmung abzustreifen. Sie sprechen sich dafür aus, die Bundeswehr auch in eigener Regie, nicht einmal mehr in der der Nato, einzusetzen. Damit würde aber ein weiterer Rückschritt eingeleitet werden, nicht nur zur Zeit des Kalten Krieges, sondern zurück in die Staatenwelt, in der der Krieg als normal galt. Anstatt die neue Weltordnung entschlossen weiterzuentwickeln, würden wir uns zu den Verhaltensdirektiven einer uralten Welt zurücktasten, deren gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen eigentlich längst untergegangen sind.

Der Tag, an dem vor 50 Jahren der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, erinnert aber auch an eine vergangene Zukunft. 1945 hatte es nur zwei Jahre gedauert, bis nach dem Krieg zwischen den West- und den Achsenmächten ein neuer Konflikt entstand. Am 12. März 1947 verkündete mit der nach ihm benannten Doktrin der amerikanische Präsident Truman den weltweiten Ost-West-Konflikt. Schuld daran war die Sowjetunion unter Stalin, kein Zweifel. Aber eine etwas andere Politik der USA, wie sie etwa von George F. Kennan vorgeschlagen worden war, hätte vielleicht verhindern können, daß aus dem Widerstand gegen Stalins brutale Unterdrückung Osteuropas ein vierzigjähriger Weltkonflikt entstand.

Diese Erinnerung macht uns darauf aufmerksam, daß das Ende des Ost-West- Konfliktes als solches noch keine neue Weltordnung geschaffen hat. Sie muß tagtäglich von uns errichtet werden. Zwar sind seit 1989/90 nun schon fünf Jahre vergangen, doppelt so viele wie seinerzeit. Aber es nimmt doch wunder, daß im Westen schon wieder von Aufrüstung gesprochen werden kann und von der Notwendigkeit, die Verteidigungsallianz der Nato zu erweitern und zu stärken. 1945 hat sich der Westen dem ehemaligen Feind Deutschland gegenüber ganz anders verhalten. Er hat ihm nicht die Verteidigungsallianz des Brüsseler Paktes von 1948 entgegengestellt, hat diesen Pakt nicht erweitert, um darin Schutz vor Deutschland zu suchen. Vielmehr hat der Westen darauf vertraut, daß die Demokratisierung Deutschlands seine politische Struktur umwandeln, aus dem ehemaligen gewaltträchtigen Gegner einen Partner und friedliebenden Alliierten schaffen würde. Das war richtig gedacht und erwies sich auch als richtig.

Diese Lehre hat der Westen auch gegenüber dem Rußland Gorbatschows und Jelzins angewendet, aber leider nicht konsequent genug. Statt ganz energisch auf die Demokratisierung Rußlands zu setzen, sind wir dabei, uns wieder stärker auf die Nato zu verlassen. Das ist genauso, als hätte der Westen 1948 Westdeutschland nicht in den Marshallplan aufgenommen, sondern in der Isolierung belassen und sich ihm gegenüber mit dem Brüsseler Pakt abgeschirmt.

Die Geschichte wiederholt sich nicht. Erinnerungen an vergangene Entscheidungen können aber sehr wohl die Optionen der Gegenwart in ein kritisches Licht tauchen. Im Jahr 1995 wird darüber entschieden werden, ob die neue europäische Friedensordnung mit oder gegen Rußland errichtet wird, ob in Europa Sicherheit herrschen wird, weil Rußland zum demokratischen Partner des Westens geworden ist, oder ob wir uns wieder mit der Verteidigung begnügen müssen, weil aus Rußland Gefahren drohen.

Wenn wir also auch nicht wissen, wie 1995 verlaufen wird, so wissen wir, wieviel auf dem Spiel steht und wieviel davon abhängt, daß im Westen richtige Entscheidungen getroffen werden. Ernst-Otto Czempiel

Politikwissenschaftler, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der „Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“. Zuletzt vom Autor erschienen: „Die Reform der UNO“ (1994)