Orpheus von Arabien

Cheb Mami, der „Prince Of Rai“, bedroht die Grundlagen seiner Gesellschaft. Mit Liebesliedern!  ■ Von Thomas Kallweit

„New Morning“ heißt der Club und ist nicht irgendein Nachtlokal. Prince – beziehungsweise „Love Symbol“ – gibt hier Aftershow- Auftritte für Eingeweihte und geladene Schickimickis. Ein In-Place. Duke Ellington, Art Blakey, McLaughlin, Miles Davis – alle sind sie hier durchgekommen.

An diesem Winterabend ist die Gesellschaft zwar multikulturell, aber geschlossen: Etwa 800 geladene Gäste – Kameraleute, Fotografen, Textjournalisten, Medienleute, auch Fans und Verehrer. Vorbei an zwei festlich gekleideten mannhaften Wächtern in Muezzin- Tracht geht es in einen rötlich abgedimmten Saal. Auf einem langen Tresen maghrebinische Spezereien, die einen günstig stimmen sollen – falls das noch nötig ist.

Der Mann, auf den alle warten: Cheb Mami Superstar. Als er mit seiner Band schließlich die Bühne erklimmt, gibt es bereits nach wenigen Takten begeisterte Zurufe. Und Mami weiß, was er seinen Fans schuldig ist. Seines Charismas sicher, tänzelt er zur vorderen Bühnenkante, belohnt die „Mami, Mami“-Rufer mit einem Lächeln, bevor er auf arabisch zu einem neuen Stück ansetzt – und dabei in anmutigen Gesten den Liebesschmerz unterstreicht. Denn davon handeln seine Stücke, die er in virtuoser Vokaltechnik modulationsreich vorträgt: von (unerfüllter) Begierde nach Frauen, von Sehnsucht und Werbung. Orphischer Gesang.

Und doch ist etwas anders hier. Auf der neuen CD, die an diesem Abend vorgestellt wird, antwortet dem „Jungen“ (Cheb) Mami ein weiblicher Gegenpart: Sie sei, singt die Stimme, nicht dazu da, den Sänger zu reflektieren, sein Spiegelbild zu sein. Die Stimme (sie bleibt leider anonym) singt ganz und gar nicht arabisch. Sie rappt, und ihre Besitzerin kommt vermutlich aus Los Angeles.

Dort nämlich wurde „Saida“ – die CD, die Mami nach seiner Heimatstadt benannt hat – produziert, jüngste Vermischung jener langen Reihe von Vermischungen, die den Rai, die Popmusik des nördlichen Afrika, schon immer gekennzeichnet haben. Und doch ist auch hier etwas anders als zuvor. Cheb Mami und seine sechsköpfige Band sind hier, um der Medienwelt zu demonstrieren, wie international auch algerische Musik mittlerweile ist. „Saida“ mit ihren fetten Synthies, ihren Drum-Beats und Rap-Elementen, ist die Platte, die Mami noch bekannter machen soll, als er das bei den Hunderttausenden, die in Frankreich seine Konzerte besuchen, ohnehin schon ist. Rai – in seiner Version als Rap-Rai – soll der Welt davon erzählen, daß der Weg von Algier nach Los Angeles zwar weit, aber gangbar geworden ist.

Gender Politics, Beziehungsprobleme

Vor gut zehn Jahren noch lebte Khelifati Mohammed, wie Mami eigentlich heißt, in Algerien, veröffentlichte Kassetten, die allerdings von Tausenden jungen Menschen gekauft wurden (in der ehemaligen französischen Kolonie blüht seit den siebziger Jahren der Handel mit Musikkassetten – und tut das bis heute). Cheb Mami sang in Saida und in anderen Städten – wie das aus der Tradition des Rai üblich ist – auf Hochzeiten, Festen, zu mannigfaltigen Anlässen; nur eben nicht im Rahmen von Live-Gigs europäischen Stils. 1986 veröffentlichte er seine erste Platte für den internationalen Markt.

Cheb Mami hat sich den Ruf eines „Prince of Rai“ ersungen – der international bekannteste Vertreter dürfte der „King of Rai“ Cheb Khaled sein. Beide gehören sie zu einer Generation von Rai-Sängern, die staatlicher Repressionen wegen ihre Heimat verlassen hat. Bis 1988 war Rai in Algerien schlicht von seiten der Regierungspartei FLN verboten. Ein anderer Rai-Star, Cheb Kader, ist in Frankreich groß geworden und war noch nie im Land seiner Eltern.

Das ist auch mit Gefahren verbunden. Im September vergangenen Jahres wurde Cheb Hasni, der in Oran lebte und sehr populär war, vor seinem Haus von islamischen Fundamentalisten erschossen. Ein weiterer, der 38jährige Kabyle Lounes Matoub, wurde vermutlich von Anhängern der FIS, der Islamischen Heilsfront, entführt. Matoub, von Familie und Fans schon fast totgesagt, kam überraschend wieder frei, und das, obwohl er in seinen Texten durchaus politisch Stellung bezieht, während Cheb Hasni sich mehr als Künstler für alle sah und, modern gesprochen, hauptsächlich von „Beziehungsproblemen“ sang.

Doch diese Thematisierung des „Privaten“ ist gerade das, was Rai für junge AlgerierInnen interessant macht. „Rai“ ist das arabische Wort für Meinung, Bekenntnis, Ausdruck. Als Musik, die in den zwanziger Jahren als trommel- und flötenbegleiteter Gesang der berberischen Schafhirten entstand, umkreiste Rai schon immer mehr die Befindlichkeiten des Subjekts Von der Hirtenflöte zum Synthesizer

als die Codices des Korans. Nach erster großer Massenwirkung während der Fünfziger verschwand Rai zunächst durch den algerischen Befreiungskrieg von der Bildfläche. In den siebziger Jahren kehrte er mit neuem Instrumentarium in die urbanisierten Zentren zurück.

Ab da setzte die Umformung des Rai zur modernen Popmusik ein, die westliche Hardware verwendet: elektronische Drums statt Percussion, Synthies statt Geigen oder Blasinstrumenten. Auch wenn er nicht vordergründig so klingt, wenn ganz andere Skalen, Melismen und Phrasierungen den Gesang beherrschen – Rai nimmt damit in Nordafrika die Stellung ein, die Rock 'n' Roll vor Jahrzehnten für die Staaten Amerikas und Europas hatte: Er erzählt vom Alltag, von individuellen Bedürfnissen, von Partys, Mädchen und Alkohol. Er ist der orphische Gesang, der hinwill zu seinem Gegenstück, das mehr sein soll als überindividuelles Konstrukt.

Dieser Modernisierungs- und Individualisierungsprozeß beschränkt sich tatsächlich nicht nur auf junge Männer. Seit den Fünfzigern gibt es in Algerien, wo 70 Prozent der Bevölkerung Jugendliche

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sind, auch „Chabas“ (Mädchen), weibliche Rai-Stars, die in den Städten – vor allem in Oran, dem Mekka des Rai – ihr Publikum fanden, vom Gros der Bevölkerung als Huren verachtet. Chaba Zahounia ist so ein Star, eine Frau, die sich mittlerweile auch auf den Covers ihrer Tonträger zeigt – gegen das Gebot des Korans unverschleiert. Ein ungeheurer Affront für den islamischen Traditionalismus, auch wenn Chaba Zahounia mit ihrer Hornbrille nach hiesigen Maßstäben eher an Nana Mouskouri als an Madonna erinnert.

Rebell für die ganze Familie

Während der drahtige Mami seine Show zelebriert – und dabei ein bißchen an Marc Almond erinnert –, stehen vor der Bühne finster blickende Frankoalgerier in Abendanzügen. Ihre Blicke durchforschen die Anwesenden unablässig, obwohl schon im Entree alle Besucher auf Waffen durchsucht wurden. Die Angst vor einem Attentat ist auch hier in Paris zu spüren. Auch im anschließenden Pressegespräch ist Mami bemüht, direkte Konfrontationen zu vermeiden. Zum Terror, der in seinem Heimatland seit Jahren herrscht, zu den Verfolgungen Andersgläubiger, „verwestlichter“ Künstler und Intellektueller, wie sie in Algerien schon fast an der Tagesordnung sind, möchte er sich überhaupt nicht äußern. Seine Musik sei für alle da, im Prinzip möchte er „jung und alt ansprechen“. Liebeslieder, nichts weiter.

Nein, nicht einmal Songs über Homosexualität mache er, wie manch anderer Rai-Sänger (gleichgeschlechtliche Kontakte sind in Algerien schon deswegen ein Thema, weil die Entfernungen zum anderen Geschlecht so groß und durch Vorschriften geregelt sind). Und die Tatsache, daß das Album in Los Angeles produziert wurde, bedeute auch nicht, daß er vorhabe, rude lyrics zu machen. Das widerspräche ja schon seinem Ansinnen, alle Altersgruppen ansprechen zu wollen.

Ängstlich oder clever? Oder bloß vorsichtig und klug? Wie er so dasteht auf der Bühne des „New Morning“, wirkt Cheb Mami eher wie ein Schlagersänger, der algerische Freddy Breck; keineswegs glaubt man, eine Bedrohung der Gesellschaft vor sich zu sehen, einen Moralzersetzer und Revoluzzer. Und Mami scheint das sehr recht zu sein.

Bloß einmal, als er gefragt wird, warum er sich mit über 30 immer noch einen „Cheb“, einen Jungen nennt, wird ein wenig untergründige Kritik laut. „Cheb heißt nicht bloß Junge“, erklärt Mami, „es muß in Verbindung gesehen werden mit der Entwicklung des Rai zu Popmusik. Ich nenne mich weiterhin so, weil das, was ich mache, neu und frisch ist.“

Und dann sagt er, ohne zu zögern: „Wer sich Cheb oder Chaba nennt, steht versinnbildlichend für eine neue Ausrichtung.“

Cheb Mami: „Saida“ (Totem Records/fnac/Semaphore)