50 Jahre danach

■ Die "Jüdische Allgemeine" sprach von "Gedenkmarathon": 1995 wird offiziell und auf lokaler Ebene des Kriegsendes und der Befreiung der KZs gedacht. Wohl zum letzten Mal werden sich ehemalige Häftlinge treffen. Und was...

Die „Jüdische Allgemeine“ sprach von „Gedenkmarathon“: 1995 wird offiziell und auf lokaler Ebene des Kriegsendes und der Befreiung der KZs gedacht. Wohl zum letzten Mal werden sich ehemalige Häftlinge treffen. Und was wird nach 95?

50 Jahre danach

Als die Westmächte im Oktober 1944 bei Aachen die Reichsgrenze erreichten, brannten in Auschwitz noch die Krematorien. Und als die Wehrmachtsführer in der Nacht zum 9. Mai 1945 das Dokument zur bedingungslosen Kapitulation unterschrieben, kämpften die japanischen Verbündeten noch für ihre Großmachtsträume. Wirklich zu Ende war der Krieg erst am 2. September 1945, drei Wochen nach den Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki.

Dieses Jahr, das Jahr 50 nach Kriegsende, hat die UNO das „Jahr des Gedenkens und der Toleranz“, getauft. Die zahlreichen Feiern in den Staaten der alten Achsenmächte und der Anti-Hitler-Koalition sind schon jetzt ein heikles Politikum. So mußte kürzlich das niederländische Kabinett auf Druck der Verfolgtenverbände von ihrer Gedenkfeier wieder ausladen, auch die Dänen wollen unter sich bleiben. Nur Paris und London haben ihre Einladungen an die deutschen Politiker noch nicht zurückgezogen.

An den zentralen polnischen Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 26. und 27. Januar wird Bundespräsident Roman Herzog teilnehmen, aber er wird keine Rede halten. Kontroversen gab es auch über den Vorschlag der polnischen Regierung, alle Friedensnobelpreisträger einzuladen. Wegen der Proteste gegen die mögliche Teilnahme des PLO- Führers Jassir Arafat ließ man die Idee wieder fallen. Jetzt werden die Preisträger Eli Wiesel, Nelson Mandela und Lech Walesa am 26. Januar in Krakau einen Friedensappell an die Völker der Welt verlesen. Am Tag darauf wird der israelische Präsident Eser Weizman in Auschwitz-Birkenau die Antwort der Staatschefs darauf vortragen. Aus Deutschland werden, neben dem Bundespräsidenten, eine Delegation des Zentralrats der Juden und eine 25köpfige Jugendgruppe kommen.

Probleme gibt es auch noch mit dem Programm der Bundesregierung. Zwar erklärte Bundeskanzler Kohl schon im Juni vergangenen Jahres in einem Schreiben an alle diplomatischen Vertretungen die Ausgestaltung der Feierlichkeiten zur Chefsache. Aber das offizielle Programm steht immer noch nicht fest. Dementiert wurde in Bonn bislang nur der Bericht des Spiegel , wonach der Kanzler ein Versöhnungsfest für Deutschland und seine Kriegsgegner plane und als Höhepunkt dazu Eser Weizman eingeladen hat. Auch der Ort des Staatsaktes und die Gästeliste sind noch nicht festgelegt. Aber das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt in Berlin wird seit Monaten freigehalten.

Intensiver als die Politiker bereiten sich die Gedenkstätten der ehemaligen deutschen Konzentrationslager auf die Feierlichkeiten vor. Sie sind wirklich 1945 befreit worden, und die jeweiligen Daten sind für viele ehemalige Häftlinge Anlaß, sich noch einmal zu treffen. Wahrscheinlich zum letzten Mal. Die Reisekosten werden von den Landesregierungen und privaten Hilfswerken getragen. Das Land Thüringen hat 100.000 Mark für Einladungen bereitgestellt. Davon können, so Irmgard Seidel von der Gedenkstätte Buchenwald, gerade die Reise- und Übernachtungskosten für 150 Menschen finanziert werden. Die Feier findet am 9. April statt. Zwischen dem 22. und 24. April sind dann in Ravensbrück und Sachsenhausen Gedenkfeiern angesetzt. Das Land Brandenburg will die Kosten für jeden Häftling, der kommen möchte, übernehmen. Allein in Ravensbrück werden über 1.000 Frauen, darunter viele aus Osteuropa erwartet.

In Bergen-Belsen wird am 27. April eine gemeinsame Gedenkfeier der Bundesregierung und des Zentralrats der Juden veranstaltet. Hauptredner werden Roman Herzog, Ignatz Bubis und als Vertreterin der Häftlingsverbände Simone Weill sein. Zu der Feier hat die niedersächsische Landesregierung aus Kostengründen nur sechzig ehemalige Häftlinge einladen können. Die Reisekosten für weitere 44 Menschen aus Osteuropa hat das katholische Maximilian-Kolbe-Werk übernommen. Diese vor allem in Polen aktive Hilfsorganisation für ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge unterstützt auch Besuche von ehemaligen Häftlingen in Dachau (30.4.), Flossenbrück (23.4.), Mittelbau-Dora (11.4.), Mauthausen (7.5.) und in Sachsenhausen und Ravensbrück.

Die Erinnerungsdaten 1995, vom Beginn der Winteroffensive der Roten Armee auf Ostpreußen am 12. Januar bis zur Kapitulation Deutschlands und die sogenannte Stunde Null, werden mit Sicherheit in den nächsten Monaten die intellektuelle Debatte bestimmen. Eine Chefsache ist das Erinnern darum Gott sei Dank nicht.

Den Auftakt macht ab 15. Januar die Stadt Frankfurt. In Zusammenarbeit mit dem Fritz-Bauer-Institut finden bis zum 2. Februar Veranstaltungen zu Auschwitz, zur Befreiung, zur Erinnerungskultur statt. Die größte wissenschaftliche Konferenz wird es in Hamburg geben. Zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz veranstaltet die Universität die Tagung „Das Echo des Holocaust“. Erwartet werden die Leiter der Gedenkstätten von Yad Vashem, Washington und New York. Das Eingangsreferat wird Raul Hilberg halten.

Daneben gibt es in fast jeder Stadt eine Fülle von Veranstaltungen. Selbst kleinste Gemeinden im Harz recherieren, ob ihre Ortsvorsteher freiwillig die weißen Fahnen hißten oder bis zur letzten Sekunde kämpften. Die Dezentralität und die Ernsthaftigkeit der Vorbereitungen machen Hoffnung, daß 1995 nicht das Jahr der professionellen Verdränger wird.

Das „Netzwerk Friedenskooperative“ betreut über achtzig Veranstaltungen, und das „Hamburger Institut für Sozialforschung“ wird in diesem Jahr mit Ausstellungen, Büchern, Tagungen sein Projekt „Angesichts unseres Jahrhunderts – Gewalt und Destruktivität im 20. Jahrhundert“ vorstellen.

Angerissen wird mit dieser Themensetzung auch das Problem des Erinnerungsjahres 1995: Es könnte das letzte sein, in dem die nationalsozialistische Diktatur als eigenständiges Phänomen im Mittelpunkt steht. Die Gefahr ist groß, daß, wenn alle Überlebenden der Konzentrationslager und die Täter gestorben sind, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nur noch als eine einzige große Katastrophe in Erinnerung bleibt. Ob 1914, oder 1944, alles eins, Mord und Totschlag. Anita Kugler