Vorgetäuschte Skinhead-Überfälle

■ Die Berliner Polizei registrierte 1994 neunzehn angeblich rechtsextreme Übergriffe / Unterschiedliche Motive

Auf dem Weg nach Hause merkte die 13jährige Tina vor drei Tagen, daß sie ihr Portemonnaie verloren hatte. Um den Vorwürfen ihrer Eltern zu entgehen, dachte sie sich in der U-Bahn nach Pankow eine spektakuläre Ausrede aus: Mehrere Skinheads hätten sich ihr auf dem Alexanderplatz in den Weg gestellt und sie ausgeraubt. Die Eltern schleppten ihre Tochter sofort zur Polizei. Zunächst hielt Tina auch dort an ihrer Geschichte fest, wurde aber schnell weich und gestand, alles erfunden zu haben.

Die 13jährige ist kein Einzelfall. Mindestens neunzehn BerlinerInnen haben im vergangenen Jahr vorgetäuscht, Opfer rechtsradikaler Gewalt geworden zu sein – drei Mal so viele wie 1993. In der Woche vor Weihnachten präsentierten gleich zwei 16- und 17jährige Schülerinnen der Berliner Polizei Schauergeschichten angeblicher Skinhead-Überfälle. Sie sei von acht Skinheads überfallen und mißhandelt worden, erzählte die eine, die sich mit einer Rasierklinge Schnittwunden zugefügt und Prellungen aufgeschminkt hatte. Die andere erklärte wenige Tage später auf der Polizeiwache in Tiergarten, drei Skins seien in einer U-Bahn-Station über sie hergefallen, weil sie sie offenbar für eine Ausländerin gehalten hätten.

Beide Geschichten erwiesen sich bald als erfunden. Dabei hatte sich die eine der beiden die Tat komplett ausgedacht. Die andere war tatsächlich angepöbelt, aber nicht geschlagen worden. Die Spuren körperlicher Gewalt seien ihr vermutlich von ihrem Freund oder in ihrer Familie zugefügt worden, erklärte die Polizei.

Viele der erfundenen Überfälle sind eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit: Auch die 34jährige Potsdamerin Elke S., die sich im Oktober mit einer vorgetäuschten Skinhead-Attacke in der Straßenbahn in die Schlagzeilen brachte, erklärte nach ihrem Geständnis, in der Tram Skins gesehen zu haben, die mit Messern herumgefuchtelt hätten.

Im wesentlichen aus vier verschiedenen Gründen denken sich die angeblichen Opfer derartige Überfälle aus. Erstens suchen einige ein Alibi. So war ein junger Ghanaer, der vorgegeben hatte, in der Parchimer Allee aus der U-Bahn gestoßen worden zu sein, in einer Kneipe in eine Schlägerei geraten. Weil seine Frau ihm derartige Kneipenbesuche untersagt hatte, dachte er sich die Geschichte mit der U-Bahn aus. Als sie darauf bestand, die Polizei zu verständigen, hielt er an der Version fest, um sich nicht vollends zu blamieren. Eine Frau ritzte sich ein Hakenkreuz in den Bauch, um ihrem Freund gegenüber ein Alibi für eine verpaßte Verabredung zu liefern. Ihre Version flog auf – sie hatte sich das Hakenkreuz vorm Spiegel seitenverkehrt eingeritzt.

Andere seien auf der Suche nach „Zuneigung und Aufmerksamkeit“, erzählt Harald C., Leiter der Inspektion für fremdenfeindliche und rechtsextreme Straftaten bei der Berliner Polizei. So sei eine Schülerin eifersüchtig gewesen, daß ihre Geschwister zur Schule gefahren würden, sie jedoch die U-Bahn nehmen müsse. Daraufhin habe sie einen Übergriff in der Bahn erfunden. Immer wieder fühlten sich Leute emotional vernachlässigt, ungeliebt und mißachtet und machten so auf sich aufmerksam.

Drittens hoffen manche – wie Elke S., die als Motiv angab, sie sei gestürzt und nicht krankenversichert – mit vorgetäuschen Überfällen an finanzielle oder sonstige Unterstützungen von Behörden zu gelangen. So glaubte ein Berliner Türke, einen Waffenschein zu bekommen, wenn er behaupte, mehrfach Opfer ausländerfeindlicher Angriffe geworden zu sein.

Lediglich in einem Fall konstatierte die Polizei 1994 so etwas wie einen politischen Hintergrund: Ein junger Mann hatte sich ein Hakenkreuz in den Oberarm geritzt und das als Skinhead-Attacke ausgegeben, um auf den wachsenden Rassismus aufmerksam zu machen.

Die meisten falschen Opfer erfänden Taten, die ihnen aus den Medien in Erinnerung seien, erklärt Harald C. „Wenn Berichte über russische Mafiabanden sich häuften, würden vermutlich auch diese als Täter ausgegeben.“ In den meisten Fällen werde aber anhand gerichtsmedizinischer Gutachten und gesunden Menschenverstandes schnell deutlich, daß es sich um Lügen handelt. Jeannette Goddar