Mehr Abgeordnete durch Hintertür?

■ Überraschendes Ergebnis einer Modellrechnung: Bei Berliner Wahlen 1995 werden je nach Bezirk unterschiedlich viele Stimmen für ein Mandat benötigt / Landeswahlleiter Appel wünscht Änderung des...

Ein Weddinger wiegt im wahlarithmetischen Extremfall viermal so viel wie einer aus Prenzlauer Berg. Wenn die Berliner bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus im Oktober 1995 genauso wählen wie die Deutschen bei der letzten Bundestagswahl, würden in Wedding 3.200 Stimmen für ein Mandat reichen, während in Prenzlauer Berg dafür 14.700 Stimmen nötig wären. Dieses überraschende Ergebnis förderte eine Modellrechnung zutage, die Landeswahlleiter Günther Appel von seinen Statistikern anfertigen ließ.

taz: Wie kommen diese Unterschiede zustande?

Appel: Wir haben keine Prognose für die Berliner Wahlen gemacht, sondern nur das Ergebnis der Bundestagswahl auf das Berliner Wahlsystem umgerechnet. Anders als auf Bundesebene gibt es in Berlin Ausgleichsmandate. (Überhangmandate, die dann entstehen, wenn eine Partei mehr Erst- als Zweitstimmen erhält, werden auf diese Weise ausgeglichen. Am Ende erhält eine Partei in Berlin nur so viele Mandate, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, d. Red.) Die durch die Überhangmandate entstehende Ungerechtigkeit in der Stimmengewichtung bei den letzten Bundestagswahlen, die zu der Klage von Bündnis 90/ Die Grünen vor dem Bundesverfassungsgericht geführt hat, kann in Berlin also nicht entstehen.

Dafür entsteht die andere Ungerechtigkeit, daß je nach Partei und je nach Bezirk unterschiedlich viele Stimmen für ein Mandat benötigt werden.

Ist eine Partei oder ein Bezirk dadurch besonders benachteiligt?

Nein, so kann man das nicht sagen. Der Proporz der Parteien wird durch die Ausgleichsmandate ja wiederhergestellt.

Wie kommt denn die unterschiedliche Stimmengewichtung mathematisch zustande?

60 Prozent der Berliner Abgeordneten werden in Wahlkreisen direkt gewählt – bei den Bundestagswahlen sind es nur 50 Prozent. Weil den Parteien in Berlin neben Landeslisten auch Bezirkslisten erlaubt sind, entstehen viele Direktmandate. Wenn eine Partei nun beispielsweise alle Direktmandate gewonnen hat, was 60 Prozent entspräche, aber nur 30 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinigt, dann sind ihre Überhangmandate in Wahlkreisen entstanden, wo dafür kein Ausgleich möglich ist.

Überhangmandate müssen also in anderen Bezirken ausgeglichen werden.

Genau. Und das war das eine Ergebnis unserer Modellrechnung, daß der Ausgleich von Überhangmandaten zu neuen Ungerechtigkeiten führt. Das zweite war die Feststellung, daß wir in dieser Modellrechnung den Ausgleich nicht nach dem Hare-Niemeyer- Verfahren – also der geltenden Vorschrift, wie Stimmen in Mandate umzurechnen sind – herstellen konnten.

Warum nicht?

Sie können das Parlament ja nicht unbegrenzt aufblähen. Deswegen nimmt man auf Landesebene die größte durch Überhangmandate entstandene Abweichung von der normalen Mandatszahl, um eine neue Mandatszahl zu ermitteln. Diese Mandate – statt 150 also vielleicht 180 – werden nun wiederum nach dem Hare- Niemeyer-Verfahren aufgeteilt. Damit müßten eigentlich alle Überhangmandate ausgeglichen sein.

Das ist aber nicht der Fall. In unserer Modellrechnung konnten Überhangmandate aus drei Bezirken nicht ausgeglichen werden, weil sich damit die Zahl der Mandate noch weiter erhöht hätte.

Das Abgeordnetenhaus, dessen Sitze in der Parlamentsreform gerade auf 150 reduziert wurden, würde also durch die Hintertür doch wieder aufgebläht?

In unserer Modellrechnung ja. Aber da das vom Wahlergebnis abhängt, muß das keineswegs so sein.

Wie könnte man vor diesem Hintergrund die Wahlgerechtigkeit erhöhen?

Wir sind mit der Innenverwaltung im Gespräch, ob wir hier die vom Hare-Niemeyer-Verfahren abweichende Regelung einführen können, daß die Überhangmandate vor der Sitzverteilung von der Gesamtzahl aller Mandate abgezogen werden müssen und dann erst der Rest der Sitze als Ausgleichsmasse verteilt wird.

Das wäre nach dem Berliner Wahlgesetz problemlos möglich?

Ja. Der Senat müßte das nur als Verordnung erlassen. Interview: Ute Scheub