Wand und Boden
: Umrahmt von lauter Würstchenbuden

■ Kunst in Berlin 1994: Von A nach B und wieder zurück–wenn auch nur im Futur 2

Plötzlich und ohne Grund ist das Jahr zu Ende, und man steht vor einem Haufen Text, der einem vermittelt, wo man sich überall herumgetrieben hat, nur nicht warum. Auf der Suche dann nach Rückblick sausen die Kolumnen vorbei wie im Flug, und wenn man schnell genug zugreift, bleiben im Rezensions-Mix aus knapp 250 Ausstellungen ein paar Wörter haften – neben „Jackpot“ soll ja übrigens auch „Verschlankung“ einer der beliebtesten Begriffe von 1994 gewesen sein. In der Kunst schließen sich lauter Wörter an, die mit K beginnen – so wie Kontext Kommunikation Konzept Kritik Kurator – und allesamt im Computernetz enden.

Es war ein Jahr voller Inputs und On-Lines: Bei Eva Grubinger konnte man ein wenig teilnahmslos Datenbänke anklicken; zu Bio-nebst-Techno-Gegenveranstaltungen wurde ohne Bilder über reale DNS-Befindlichkeiten diskutiert, um hinterher dann Adressen für mögliche InterNet- Projekte auszutauschen. Georg Zey brachte das Ganze mit seiner Installation „Zeyberspace“ auf den Punkt: Von innen winkt immer der Autor zurück. Je weiter man sich durch Medien der eigenen Handschrift zu entledigen versuchte, um damit auf soziale Anliegen in der Kunst zu verweisen, desto unmittelbarer trat in der Programmierarbeit unzähliger Computer-Konzeptualisten der Verwaltungsakt als Ersatzfunktion hervor. Eine Art digitaler Expressionismus. Bei aller Praxisorientierung blieb man unter sich oder ließ KunsthistorikerInnen leider nur sehr intern etwa über Maria Eichhorns monochrome Leinwände reden. Auch das 1994er Archiv von „Wand und Boden“ sprach letztlich immer wieder im Futur 2: Erst am Tag nach der Zeitungsproduktion wird gelesen werden können, was KünstlerInnen heute gemacht haben. Die Allgirls-Gallery machte ihren Willen zum Wissen zur Ausstellung: Dokument-Stationen, künstlerische Darstellungs-Entwürfe zwischen Zukunfts-Museum und Coffeeshop.

In diesem Gleichlauf kommt man fast durchs ganze System, wenn man einmal von solcherlei Unwägbarkeiten wie Sarah Puccis paillettenbestickten Geburtstagstorten in der Galerie Fischer absieht. Statt der fünfzigjährigen Tochter bloß Post zu schicken, entwickelte die alte Dame aus Pittsburg, Pennsylvania, sich zur begeisterten Dekorateurin, die mit viel Begeisterung Kitsch und Lebensschnipsel aus der eigenen Kommode zusammenmontierte. Auf der anderen Seite dann die vollständig durchgerechnete Zeit: Berliner Chronik, vom Konzept- Künstler Joseph Kosuth angedacht, über die Kunst-Werke aufs städtische Datennetz der Mail- boxen und Volksbühnen verteilt und schließlich in der taz gedruckt. Eine Woche lang durften Zeitungsleser sich mit Benjamins Bedenken gegenüber medialen Weltbildern anfreunden.

Ethik und Ästhetik zusammenzuzwingen war vielleicht nicht immer eine gute Idee. Bei Le Shuttle, Bethaniens 20-Jahre- Selbstfeier-Ausstellung, bewiesen einige starke Stücke, daß es multikulturell geht: Choreh Feyzdjous paradoxes Teppichlager im Kohlenbunker oder Mona Hatoums Videoinstallation „Corps Etrangers“. Die Frage nach der spezifisch zeitgenössischen Erscheinungsweise von Schönheit beantwortete sich ausgerechnet im Magen. In Frauenfragen pendelte Regina Frank zwischen Boutique und Computer. So ging ihr die Leinwand, die der Künstler über den Keilrahmen spannt und in der Galerie auf Distanz bringt, hautnah. Sie machte daraus Kleider, als „Collection Morale“ und „Collection Tautologique“. Im radikalen Kunst(be)griff dekonstruierte Frank bei Wewerka sinnfällig Geschichte und Geschlechterkampf.

Stoffliche Kunst in Hülle und Fülle und Tüll auch, die von Simone Mangos als Schleiernetz bei Gebauer und Günther installiert wurde. Eine Geburt der Melodie aus dem weißen Rauschen, dem white noise, folgte dem Drang aller Töne, der Schleier ergoß sich nach draußen, ins Freie und war dort die überraschendste Milchstraße, die je über Berliner Hinterhöfen schwebte.

Für Fritz Balthaus dagegen waren Medien allein aus Licht gemacht: mit 3000-Watt-Glühbirne an den Rand der Aufklärung. Im hohen Kubus des aufgesockelten Galerieraums bei Vincenz Sala hatte seine reflektierte Kunst zweifellos leichteres Spiel als zuletzt im Schuppen des NBK. Das Licht-und-Schatten-Fresko an den Wänden erstrahlte hier eindrücklich, heiter, absolut. Dafür suchte im NBK das Kunstwerk selbst nach seinem Zentrum. Die dreidimensionale Luftpolsterfolie veranlaßte den intelligenten Diaprojektor mit Autofocus zum vertrackten Endlos-Zoom zwischen allen Schärfeebenen.

Ein anderer wollte es technologisch noch genauer wissen: Der „Hollywood“-Tisch von Klaus vom Bruch bei Eigen + Art vereinte einen Peilstrahl aus der V2- Werkstatt von Peenemünde mit einem silikonüberzogenen Schneidetisch. Die Unterhaltungsindustrie ist eben auch nur ein Teil des militärisch-industriellen Komplexes. Solch aufregender Aufklärung folgt zwangsläufig der Schlaf der Vernünftigen.

Keine Berliner Galerie noch eines der im Dutzend ortsansässigen Museen brachte es aber zustande, den im Februar verstorbenen Donald Judd zumindest mit ein paar seiner Aluminium-Boxen wenigstens bescheiden zu würdigen. Statt dessen war man in Sachen Vereinigung von West- Pop und SED-Auftragskunst beschäftigt. Willi Sittes maoistischer Metzger hängt jetzt also in der Neuen Nationalgalerie, Honeckers Portrait auf Wildschweinfell jedoch darf nicht in Gysis Schreibstube. SozArt wurde mitunter auch von der anderen Seite aufgerollt. Auf die Verzweiflung des orientierungslosen Künstlers folgte bei Ilja Kabakows umgeschriebener Kunstgeschichte die Verschwörung der Untalentierten. Denn diese betrachten das Werk der Bildzerstörung einfach als das der Vollendung, als „eine vorzügliche Installation“. Und das war sie auch. Glassplitter der beschädigten Gemälde zogen Gedankensplitter eines FAZ-geschädigten Diskurses nach sich: Kabakow jedenfalls präsentierte eine sehr klare Vorstellung vom Niedergang des „Prinzips Handwerk“. Nicht mehr im Trend dagegen: der Dissident. Für Cornelia Schleimes Stasi-Akten-Kolportage in Gaucks Nachfolgebehörde interessierte sich kein Mensch mehr (nur wieder nur wir). Die Kleinen läßt man hängen, die Großen geht man kaufen. Dazu paßten die freudigen Mienen reisebussezählender Verkehrsvereinsmänner, weil Christo demnächst den Reichstag einhüllen darf, während in Potsdam ein Riesenkondom zum Aids-Tag die Pastorenbetriebsamkeit der Brandenburgischen Kirche störte.

Wolfgang Müller, allseits beliebter taz-Kolumnist, stellte im isländischen Sommer bekanntlich der – auf der Insel unbekannten – Blaumeise nach. Elfensteine trugen im Herbst dann ihr zartes Bildnis, und es erwies sich in der Zwinger-Galerie außerdem, daß Nan Goldin sich von Müller völlig für dessen Meise einnehmen ließ: Entsprechend ihrer Wahrnehmung des Subkulturell-Abgründigen hat sie die Meise gleich als Fetisch portraitiert, als Plüschvogel.

Eine weitere Geschichte aus der Provinz war bereits im letzten Jahr der Rausschmiß von Wulf Herzogenrath als Kustos der Nationalgalerie, weil er sich nicht so recht der Sammlung eines gewissen Herrn Erich Marx im Hamburger Bahnhof unterordnen wollte. Herzogenrath mußte in Bremen anheuern. Der alte Kunsthallen-Direx Ruckhaberle wurde auf Senatens Geheiß nach Buch auf den Künstlerbauernhof ausgelagert; Jörn Merkert von der Berlinischen Galerie darf weiterhin aufs Postamt an der Monbijou-Brücke als Depot hoffen, und das Tacheles soll bleiben, wo es ist – in Mitte, als romantischer Schrottplatz inmitten lauter Würstchenbuden. Berlin ist immer noch Berlin: Zu diesem Schluß kamen auch die hochdotierten Kunst-Situations-Kommissare Kasper König und Wim Beeren, die eigentlich keinem mit ihrem Gutachten richtig auf die Füße traten.

Doch nicht nur sehr spät Zugereiste und Vereinigungsgewinnler haben sich den Satz vom „New Deal“ ins Powerbook geschrieben. Mittlerweile stellt ein netter Hallodri namens Bruno Brunnet nicht bloß Fine Art wie Christopher Wools schwarzlackierte Blumen-Paintings oder Sean Landers Chippendale-Strip-Videos aus, sondern macht auch in Modeschmuck. Und der geschäftige Schwabe Tim Neuger schwadroniert auf den entsprechenden Eröffnungen seiner Galerie über Jorge Pardos Küchentische oder Rikkrit Tirvanijas Wohnzimmermöbel, während sein Kompanion Tilmann Riemschneider wie zuvor im Taschen-Verlag die Bücher macht.

Überhaupt Jugend: Der Senat hat sie dieses Jahr entdeckt. Plötzlich wurschtelten in der Akademie der Künste/Ost zahllose Informatik-AGs an Computern herum, Streetworker durften mit ihren Schützlingen offiziell U- Bahn-Graffiti sprühen, und der Staat vermutete hinter alledem Techno und Demokratie. Als Folgeerscheinung flatterten ganze Schuber von Einladungen ins Haus, in denen junge Leute von heute mit MTV erklärt wurden. Nur das Cover-Foto war für müde Onkels gemacht: ein latexgestützer Teenie-Popo. Logischerweise kommt in diesem Kreislauf Kunst von Kindern dem Wunsch am nächsten. Kleckspapiere auf der rotierenden Zeichen-Maschine von Damien Hirst waren schöner als jeder seiner sterbenden Schmetterlinge im daad-Austauschdienst. Und als „Menschenbildnis“ im Jugend- und Kulturzentrum Wasserturm der von Holger Daske fotografierte grinsende Knirps auf der Straße: In der sympathisch unaufdringlichen Machart des Bildes deutete sich eine Nähe an, die nicht nach ästhetischen Merkmalen sucht. Daske hat bloß den Moment wahrgenommen und aufmerksam den Auslöser gedrückt. Weiter wollte er gar nichts erzählen. Brigitte Werneburg

Harald Fricke