■ Eine Antwort auf Jürgen Trittins taz-Artikel vom 20.12.
: Öffnung statt Selbstvergewisserung

Jürgen Trittin ist um die Reputation der Bündnisgrünen besorgt. Die Debatte um „Schwarz-Grün“ geht, so seine Einschätzung, „zu Lasten des politischen Profils von Bündnis 90/Die Grünen [...] wegen der damit einhergehenden Anerkennung als reputierliche [also achtbare, ansehnliche; L.P.] Partei“. Der Logik dieses Arguments zufolge immunisieren sich die Bündnisgrünen am besten gegen diese Diskussion, indem sie ihre Tradition als Bürgerschreckpartei wiederbeleben. Vier Jahren reputierlichen Ministerdaseins in einer rot-grünen Landesregierung haben allerdings auch Jürgen Trittin darüber belehrt, daß die Bündnisgrünen sich nicht mehr wie „the new kid on the block“ verhalten können. Seine Therapie zur Abwehr lästiger Diskussionen setzt auf die altbewährten Mittel linker Selbstvergewisserung: Schwarz- Grün dethematisieren, an Rot- Grün festhalten, ansonsten alles zuspitzen. Gerade die Metapher vom „Zuspitzen“ ist eine Lieblingsvokabel aus dem Arsenal linker Politiktradition. Politische und soziale Konflikte zuspitzen, den Gegner demaskieren, Blöcke bilden – das ist die Sprache, die schon in den zwanziger Jahren ein konfrontatives und polarisierendes Politikmodell geprägt hat. Es war auch die Erfahrung mit diesem staatlich instutitionalisierten Politikmodell in der DDR, die die pluralistisch-diskursive Denkungsart der Bürgerbewegungen inspirierte.

Trittins Therapie der Selbstvergewisserung besteht in Abwehr. Sie beruht auf mangelndem Selbstbewußtsein. Sie fürchtet, durch Offenheit und Öffnung die eigene Identität zu verlieren. Aus Sätzen wie „Die Schwarz-Grün-Debatte führt zur Verunklarung ihrer inhaltlichen Positionen“ spricht die blanke Angst, sich auf etwas Neues, auf Verunsicherung einzulassen. Veränderung und Entwicklung vollziehen sich gerade im Politischen durch das Einlassen auf die Argumente auch der politischen Gegner. In einer Zeit, in der nicht zuletzt durch die Ereignisse von 1989 die Verhältnisse und die politischen Lager in Bewegung geraten sind, wäre es tödlich, der bündnisgrünen Partei Blockbildung zu verordnen. Der Rückzug auf die „Überschneidungen in den soziokulturellen Milieus der Parteien und ihrer Umfelder“ ist ein schwaches Argument, wo es zunächst einmal um eine Debatte über inhaltliche Fragen geht.

Die bündnisgrüne Partei braucht die Wertediskussion nicht zu fürchten. Als Partei der Ökologie, der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit ist sie Wertepartei. Statt Demarkationslinien zu ziehen und sich selbst Denkverbote aufzuerlegen, kann sie – zunächst einmal jenseits von Koalitionsüberlegungen – selbstbewußt sowohl mit der Sozialdemokratie als auch den Konservativen den Wertestreit suchen. Jürgen Trittin dagegen fällt als Antwort auf Schäubles Weg aus der „Sinnkrise“ der modernen Gesellschaft wiederum nur eine „Zuspitzung von links“ ein. Damit hält man sich zwar lästige Fragen vom Hals, entledigt sich aber noch nicht des Problems. „Sinnkrise“ ist nicht nur ein ideologisches Konstrukt, sondern reflektiert Identitätsprobleme in nahezu allen entwickelten westlichen Demokratien.

In diesen bestimmt immer weniger Identifikation, sondern zunehmend Entfremdung das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Gemeinwesen. Liberale demokratische Gesellschaften mit ihren verrechtlichten Institutionen und Verfahren produzieren keinen Sinn; sie haben keine Verheißungen im Sinne ganzheitlicher Utopien zu bieten, sondern sind, wie Ralf Dahrendorf treffend bemerkt hat, cold projects. Die mangelnde affektive Bindungskraft von Marktwirtschaft und Demokratie in ausdifferenzierten und fragmentierten Massengesellschaften erweist sich insofern als eine Strukturschwäche des demokratischen Projekts. Will man sich ohne Scheuklappen mit dieser Schwäche beschäftigen, so geht es in aller Regel um folgende Fragen:

– Wieviel symbolische Identität braucht die moderne Gesellschaft? Und wieviel (und welcher Art) symbolische Identität verträgt sie?

– Wie schaffen sozialstaatlich organisierte Demokratien den Strukturwandel vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, in der ein Teil der bisher staatlich garantierten Subventionen und öffentlichen Transferleistungen von privaten gesellschaftlichen Netzwerken und Solidargemeinschaften übernommen werden, ohne die Idee der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs aufzugeben?

– Wie können Modelle radikaler Arbeitszeitverkürzung mit neuen Formen der privaten Vergemeinschaftung verknüpft werden?

– Welche ethischen Maßstäbe im wirtschaftlichen und menschlichen Handeln sind als Gegengewichte zu einem rein interessegeleiteten Lobbydenken notwendig?

Ganz in der Tradition der Selbstgewißheit stehen für Jürgen Trittin die Antworten bereits unverrückbar fest. Die Rechten, so seine Argumentation, wollen Unsicherheit durch eine Politik der Stärke beseitigen, die Antwort von links heißt, daß es Sicherheit in einer Welt der Umbrüche nicht geben kann. Leider wird das vermeintliche Argument nicht selbstreflexiv, denn sonst müßte Trittin einräumen, daß es auch „soziale Sicherheit“ in einer Welt der Umbrüche nicht geben kann. Bisher aber strotzt die offizielle grüne Parteitagsprogrammatik immer noch vor Versprechen auf perfektionierte Sozialstaats-Sicherheit. Schließlich argumentiert er mit vermeintlichen Erkenntnissen der politischen Soziologie, indem er „Pluralisierung, Polarisierung und Individualisierung“ als Ursachen „einer wachsenden Ausgrenzung marginalisierter Gruppen aus der politischen Willensbildung“ ausmacht. Ganz davon abgesehen, daß zumindest Pluralisierung und Individualisierung in der politischen Soziologie zunächst einmal als Motor der Entwicklung neuer individueller Freiheitsoptionen diskutiert werden, thematisiert seine These nur eine Seite des Problems. Gerade in den durch Individualisierung neu entstandenen kulturellen Milieus gibt es Tendenzen einer gewollten Selbstabschließung und Verabsolutierung partikularer Interessen gegenüber der Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund ist auch die Beschwörung von Verfassungspatriotismus und multikultureller Gesellschaft noch keine Antwort auf Schäubles vermeintlichen „Tugendpfad“ der nationalen Schicksalsgemeinschaft. Die Frage, wie die notwendigen funktionalen mit den fortschreitenden kulturellen Differenzierungsprozessen in der Gesellschaft so harmonisiert werden können, daß der soziale Zusammenhalt gewährleistet bleibt, ist bisher nicht schlüssig beantwortet worden. Sie müßte aber auch für eine bündnisgrüne Debatte über das Verhältnis von Gesellschaft und Gemeinschaft der Ausgangspunkt sein. Lothar Probst

Der Autor arbeitet als politischer Kulturwissenschaftler an der Uni Bremen.