Heilige Justizkuh wurde geschlachtet

■ Rechtsstaatlichkeit bei Strafprozessen ist bedroht / Neuer Paragraph in Strafprozeßordnung wird in Berlin eifrig genutzt

In den Moabiter Gerichtssälen wird seit dem 1. Dezember von den Möglichkeiten des neuen Paragraphen 257a häufig Gebrauch gemacht. Dies erklärte die Rechtsanwältin Ulrike Zecher, Vorstandsmitglied des Vereins Berliner Strafverteidiger e.V., gegenüber der taz. Ursprünglich war die Anwältin vom Verein beauftragt worden, das Verfahren gegen den vermeintlichen „Paten“ der Berliner Unterwelt, Klaus Speer, vor der 19. Großen Wirtschaftsstrafkammer zu beobachten. Doch inzwischen hat sich ihr Auftrag erweitert.

Der Grund dafür ist die Einführung des Paragraphen 257a der Strafprozeßordnung (StPO), der die Möglichkeit der Angeklagten und ihrer Verteidiger einschränkt, Beweisanträge öffentlich zu verlesen. Zuhörer, Prozeßbeobachter und Journalisten sind nach der Neuregelung von wesentlichen Teilen des Verfahrens ausgeschlossen, weil das Gericht mit diesem Paragraphen Verfahrensbeteiligten aufgeben kann, Anträge und Anregungen zu Verfahrensfragen nur schriftlich zu stellen.

Vor vier Wochen war es noch ein Revisionsgrund, wenn beispielsweise bei einem Gerichtsverfahren die Türen zum Zuhörerraum nicht geöffnet wurden oder der Zettel mit der Prozeßankündigung nicht an dem dafür vorgesehenen Platz neben der Saaltür der entsprechenden Kammer hing. In beiden Fällen wurde ein wesentliches Prinzip der Rechtsprechung, nämlich das der Öffentlichkeit, gravierend verletzt. Am 1. Dezember 1994 wurde dieses Prinzip, vormals geradezu eine heilige Kuh demokratischer Strafrechtspflege, mit dem neuen Verbrechensbekämpfungsgesetz stillschweigend außer Kraft gesetzt.

Von Beginn an hatte der Verein Berliner Strafverteidiger e.V. den Prozeß gegen Klaus Speer für ein Pilotverfahren gehalten. „Hier werden Kriterien für den Begriff der Organisierten Kriminalität festgelegt“, so die Anwältin. Zu den Besonderheiten dieses Verfahrens gehöre es, daß sich die Staatsanwaltschaft mit Klaus Speer erstmals willkürlich eine Person aussuchte, von der man annahm, daß sie im Bereich der Organisierten Kriminalität eine Rolle spiele, um diese auszuspähen und ihr Straftaten nachzuweisen. Die letztendlich dabei zustandegekommene Anklage hatte die Aufmerksamkeit des Vereins Berliner Strafverteidiger erregt. Die Anklage kam ihm konstruiert vor.

„Es zeichnet sich jetzt schon ab“, so die Anwältin, „daß die 19. Große Strafkammer von der neuen gesetzlichen Regelung des Paragraphen 257a extensiv Gebrauch machen wird.“

Nach Auffassung des Deutschen Anwaltsvereins markiert der 1. Dezember eine wesentliche Veränderung der Vorschriften, die zu den Bürgerrechten im Strafverfahren gehören. Die Vereinigung kritisiert nicht nur die in der „deutschen Justizgeschichte beispiellose Regelung“, sondern spricht sich in einem Appell an Richter, Staatsanwälte, Strafverteidiger und den Gesetzgeber auch gegen die sogenannten Schnellgerichte aus. „Bisher konnte der angeklagte Bürger die gerichtliche Erhebung von Beweisen erwirken, die seiner Entlastung dienen sollen. Dieses Recht ist jetzt in Prozessen vor dem Einzelrichter des Amtsgerichts, der Strafen bis zu zwei Jahren verhängen kann, praktisch aufgehoben“, rügen die Anwälte.

In ihrem Appell warnen sie auch davor, die Justiz mit einer Lawine von Gesetzesänderungen zu belasten. Gesetzgeberische Hektik füge der Rechtspflege Schaden zu. Es dürfe, so die Anwälte weiter, keine Gesetze mehr geben, die das rechtliche Gehör vor den Gerichten aushöhlen. Peter Lerch