Auge um Auge, Zahn um Zahn

Am Heiligabend entführten islamistische Untergrundkämpfer auf dem Flugplatz von Algier einen französischen Airbus mit mehr als 230 Menschen. Die Maschine flog nach Marseille. Mit der Aktion wird der Krieg von Algerien nach Europa getragen.

Das Schauspiel gleicht einem okzidentalen Alptraum. Fanatiker des Islam kapern ein Flugzeug auf dem Weg nach Europa, erschießen mehrere Geiseln und halten den Westen im Atem. Der französische Staat mobilisiert Elitetruppen, bereit zum Showdown. Den Kidnappern droht ein heldenhafter Tod, den Flugzeuginsassen ein grauenvoller. Und über Fernsehkameras ist die Welt live dabei beim ersten Akt eines bisher orientalen und damit hierzulande ausgeblendeten Krieges auf westlichem Boden.

Der Krieg, um den es geht, ist ein verborgener. Algerien, Deutschland so nah wie Griechenland und den Franzosen ein unbehagliches Mittelmeergegenüber, befindet sich nicht mehr im bloßen Zustand von Terror und Repression, sondern in dem eines Krieges, der denen des Balkans und des Kaukasus an Grausamkeit in nichts nachsteht. Glaubt man den amtlichen, eher niedrigen Angaben, sind seit Januar 1992 etwa 18.000 Menschen ums Leben gekommen. Damals hatten die Militärs geputscht und so die Regierungsübernahme der in den vorherigen freien Wahlen siegreichen „Islamischen Heilsfront“ (FIS) verhindert.

Zunächst rächten sich die um ihren Sieg betrogenen und in den Untergrund gegangenen Islamisten am Regime mit zuweilen blutigen und wahllosen Überfällen und Attentaten in den Städten und Partisanenaktionen auf dem Land. Das Regime reagierte mit ebenfalls blutigen Mitteln: Hinrichtungen, Dorfrazzien, bald auch Flächenbombardements mit Napalmeinsatz. Im vergangenen Sommer rief die radikale „Bewaffnete Islamistische Gruppe“ (GIA), die vermutlich auch hinter der Flugzeugentführung steckt, ein „Kalifat“ aus, erklärte Westlern und dem modernen Bildungswesen den Krieg, tötete über 70 Ausländer und brannte 610 Schulen ab. Als Antwort brach die Regierung Ende Oktober einen aufkeimenden Dialog mit der betrogenen Wahlsiegerin „Islamische Heilsfront“ (FIS) ab, die trotz der GIA- Eskalation auf Verhandlungen gesetzt hatte. Statt dessen begann das Militär mit der Bildung von Ortsmilizen und setzte zu großangelegten Strafexpeditionen in den bergigen Rückzugsgebieten der Islamisten an.

Seither folgt, darf man den äußerst spärlichen Berichten glauben, Schlag auf Schlag. Die Guerilla erzwingt mit vorgehaltener Waffe „islamische Ordnung“ in Schulen und Dörfern. Die Armee erzwingt mit vorgehaltener Waffe das Gegenteil. Einmal schießen die einen zuerst, einmal die anderen – Tote gibt es jedesmal. Die Islamisten sollen Enthauptungen vornehmen, die Armee Folter und Verstümmelung mit elektrischen Sägen. Die algerischen Bauern stehen dazwischen – und zum Teil, wie etwa im Gebiet der nichtarabischen Kabylei, auch in bewußter Gegnerschaft zu beiden Kriegsparteien. Doch der Krieg ist allgegenwärtig: Familien zerreißen, wenn die Söhne vor der Wahl stehen, zum Militär oder in den Busch zu gehen. Nach Einschätzung französischer Geheimdienste sterben inzwischen wöchentlich bis zu 1.000 Menschen bei Anschlägen, Gegenanschlägen, Repressalien, Fehden, Terror und Gegenterror. In Algier wurden jüngst wieder von Islamisten getötete Journalisten beerdigt, während Sabotageakte zu mehrtägigen Stromausfällen führten; auf der Hauptstraße von Algier nach Blida stellte die Armee kürzlich nach einer Rückeroberungsaktion 59 Leichen zur Schau – gedacht als Einschüchterung und Abschreckung. Von einer „Zeit der Massaker hinter verschlossenen Türen“ spricht ein algerischer Funktionär gegenüber der französischen Zeitung Le Monde: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Mit der Flugzeugentführung von Weihnachten, fast auf den Tag genau drei Jahre nach dem FIS- Sieg bei Algeriens einzigen und wieder annullierten freien Wahlen, wird nun der Krieg von Algerien nach Europa getragen – ein Bild, das seit längerem Ängste schürt, denen der französische Staat seit dem Sommer mit einer Politik der Abschottung begegnet. Die in großen Mengen von Algeriern gestellten Visaanträge für Frankreich etwa werden nicht mehr direkt in Algerien bearbeitet, sondern in verzögerter Zeit in einem Sonderbüro im französischen Nantes; mutmaßliche islamistische Stimmungsmacher in Frankreich wurden zunächst inhaftiert und dann ins ferne westafrikanische Burkina Faso verbannt. Im beginnenden französischen Präsidentschaftswahlkampf spielt Algerien keine Rolle: Der Mantel des Schweigens ersetzt offene Politik. Zugleich aber liefert Paris Militärhubschrauber mit Nachtkampfausrüstung nach Algier, und es hat Anfang Dezember in der EU einen neuen Algerien-Kredit in Höhe von 200 Millionen Ecu durchgesetzt.

Die Pariser Politiker, die den Putsch von 1992 begrüßten, haben sich an das Regime in Algier gekettet und können sich nun nicht mehr bewegen. Jede diplomatische Veränderung, sagt die in Frankreich lebende FIS-Expertin Séverine Labat, würde als Fallenlassen verstanden werden; zugleich gilt Frankreich, das als Kolonialmacht noch in den fünfziger Jahren selber Krieg in Algerien führte, den Algeriern als letztendlich Verantwortliche für alle neuen Entwicklungen, als Vater des unabhängigen algerischen Staates, der wiederum als seine Kinder die Islamisten hervorbrachte.

Die Familienbande reichen auch in den Analysen tief: Französische Geheimdienste entwickelten vor kurzem ein Alptraumszenario für Algerien, wonach die Islamisten Massenaufmärsche in Algier organisieren, die Armee den Schießbefehl gibt – und die jungen Soldaten meutern und damit dem Regime den Todesstoß geben. Genau so verlor Frankreich 1960 seine letzte Schlacht gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung.

Gilt nun die islamistische Guerilla auch für Paris als Erbe der Freiheitskämpfer? Als neue Befreiungsbewegung für Algerien sieht sich zumindest die GIA selbst, die jeden Dialog mit dem Militärregime ablehnt, und der selbst der Sudanese Hassan El-Turabi, graue Eminenz der nordafrikanischen Islamisten, wegen ihrer Brutalität bescheinigt hat, „zu weit gegangen“ zu sein. Den Krieg dauerhaft nach Frankreich tragen: Das wäre für sie der Durchbruch. Märtyrer auf europäischem Boden wären eine fruchtbare Saat für „Racheakte“ in Frankreich selbst.

So schlimm solch eine Entwicklung wäre – sie bewegte sich nach logischen Gesichtspunkten. Denn bisher spielt Algerien in der europäischen Wahrnehmung der Welt keine Rolle. Wahrgenommen wird der algerische Krieg nur dann, wenn er Ausländer betrifft: Die „verschlossenen Türen“ funktionieren perfekt, der schmutzige Krieg wird hingenommen und von Frankreich mit Finanz- und Militärhilfe an die Regierung sogar angeheizt – als ob nicht auch die Algerier selbst schutzwürdig wären. Sollten die Flugzeugentführer sterben, so hätten sie mit ihrer Aktion vielleicht wenigstens erreicht, daß Europa gegenüber den Vorgängen jenseits des Mittelmeers nicht sofort wieder in Teilnahmslosigkeit verfällt. Dominic Johnson