Der Krankenschein wandert zum Altpapier

■ Zum Jahreswechsel wird statt dessen bundesweit eine Magnetkarte eingeführt

Berlin (taz) – Kein mahnendes Schild mehr in Augenhöhe: „Am 1. Oktober hat das neue Quartal angefangen. Bitte denken auch Sie ...“ Kein strenger Blick mehr von der Dame in Weiß: „Ja, haben wir denn schon Ihren ...“ – alles vorbei, abgewickelt, ausrangiert – die Republik entledigt sich ihres kranken Scheins. Dabei war dieser Schein immer mehr als ein schnödes Blatt Papier. Er war Institution und feststehender Begriff. Ganze Generationen hat er begleitet, war selbstverständliches Alltagsutensil wie Zahnbürste, Lohnsteuerkarte und Familienfoto im Portemonnaie. Jeder hatte ihn, nicht jeder brauchte ihn, aber wer ohne ihn war, war auch immer arm dran. Zum Jahreswechsel also wird er ausgemustert. Ein verläßlicher Lebensbegleiter mutiert zu Altpapier. Der Krankenschein weicht der Magnetkarte, die Institution wird zum Chip. Für zu altmodisch befunden, zu unpraktisch, zu antiquiert. Dabei war er seiner Zeit doch Meilen voraus. Er war das erste bargeldlose Zahlungsmittel überhaupt: Dem Weißkittel einfach das Papier auf den Tisch gelegt – und schon war man quitt. Ein Vierteljahr lang Leibesreparatur gratis, egal wie hoch der Schaden war. Welche Autowerkstatt macht das schon? Halb Europa beneidete uns darum. Ganz Amerika sowieso. Gezahlt wurde stets im voraus, für etwas, von dem man nie wußte, was es sein würde – aber das war auch egal.

Als Gegenwert erhielt man jedesmal eine Wundertüte von Gaben, unberechenbar in ihrem Inhalt und voller Überraschungen: Mal war nur ein flüchtiger Blick des Doktors drin, mal eine komplizierte Meniskusoperation, ein anderes Mal sogar ein Herzschrittmacher. Der Wechselkurs des Scheins war schier unergründich: Manchmal war er gerade ein paar Märker wert, mal spuckte er seinem Empfänger gleich etliche blaue Scheine aus. Nicht selten auch erhöhte der den Kurswert zu seinen Gunsten. Eine Quittung bekam die Kundschaft ohnehin nicht zu Gesicht, und die Rechnung – verkehrte Welt – zahlte in diesen Fällen die Kasse. Und was gab es nicht alles „auf Krankenschein“! Säfte und Sälbchen, Zahnspangen und Zäpfchen, Antibabypillen und Arbeits-pausen, Katheter und Kuren. Alles vorbei. Künftig lassen wir uns „auf Magnetkarte“ massieren oder nehmen „Urlaub auf Chip“. Wie das schon klingt!

Zugegeben: Fälschungssicher war dieses Zahlungsmittel nicht. Auch notleidende Freunde und Bekannte konnten damit ein Stück Körperreparatur erkaufen, und ähnlich schadlos setzte auch manch weißbekittelter Reparateur Arbeiten auf die Rechnung, die nie geleistet waren. Aber ist das ein Grund, den Schein zu verbannen? Nach all den Jahren, all der liebgewordenen Gewohnheit?

Künftig moniert keine strenge Sprechstundenhilfe mehr den fehlenden Schein. Beim langwierigen Ausfüllen wird man nicht mehr heimlich Anteil nehmen an den Krankengeschichten der Mitpatienten.

Ein seelenloser Apparat wird in Sekundenschnelle unsere Karte schlucken und spuckt am Ende das Allerschrecklichste aus: einen Ausdruck, ähnlich dem Bon im Supermarkt, wo all das aufgelistet ist, was der Mediziner in dreiminütiger Audienz mit uns so alles angestellt haben will. Und genau das wollen wir lieber gar nicht wissen – es macht uns schier krank. Vera Gaserow